Freitag, 9. September 2016

Always look on the bright side of life

Mein buddhistischer Gleichmut wird manchmal schwer auf die Probe gestellt. Wenn das passiert, frage ich mich als erstes: Liegt's an mir? Bin ich in letzter Zeit aggressiver geworden und wenn ja: Woran liegt das?















Seit über siebzehn Jahren übe ich Zen-Meditation. Ich kann mich fast jederzeit bewusst entscheiden, ob ich mich über etwas aufregen will, oder ob ich es einfach sein lasse. Ich kann das Gefühl des Ärgers beobachten, zuschauen, wie es in mir aufsteigt. Ich spüre, wie das Adrenalin in meinen Adern kocht, wie es die Atmung beeinflusst und die Muskeln zum Zittern bringt. Ich spüre auch, wenn dieser Effekt wieder nachlässt. Ich kann tief durchatmen, um den Entspannungsprozess zu beschleunigen, und ich kann mich aus Situationen entfernen, die meinen Gleichmut beeinträchtigen.

Ich weiß, wo der Schalter in meinem Kopf ist, den ich umlegen kann, wenn ich mich nicht echauffieren will. Auf diese Weise kann ich mich aus fast allem raushalten, was mich ansonsten in Rage bringen würde. Dummerweise kommen manche Situationen - sogenannte Schlüsselszenen - immer wieder. Es sind die Momente, in denen mich "das Leben" mit Aufgaben konfrontiert, die allein durch Gleichmut nicht zu lösen sind.

Am besten trifft es dieses Zitat, bei dem ich das Wort "Gott" bewusst weglasse:

Gib mir die Gelassenheit,
Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden. 


Okay, die Gelassenheit ist prinzipiell vorhanden und ich weiß, wie ich sie "einschalte".
Den Mut, Dinge zu ändern, habe ich grundsätzlich auch.
Was jetzt noch fehlt, ist die Weisheit der Unterscheidung.

Worüber sollte ich mich gerechterweise aufregen und worüber nicht?
Was kann ich ändern, was nicht?

Ein Experiment



Vor gut einem Jahr habe ich mich über die vollgestopften Briefkästen echauffiert. Inzwischen habe ich dafür gesorgt, dass die unbenutzten Briefkästen zugeklebt wurden.
"Anzeigenblätter dürfen auch in Briefkästen geworfen werden, die per Aufkleber Werbung verweigern."  (wochenblatt.de)
Für meine eigenen habe ich also erst mal die richtigen Aufkleber besorgt, und E-Mails an die Redaktionen geschrieben, die mir trotzdem noch unerwünschtes Papier ins analoge Postfach geschoben haben. Das ist mühsam und kostet Zeit, aber das Fazit: Es funktioniert zu 90%

Einige Nachbarn im Haus haben sich ebenfalls die Aufkleber geholt, die ich gleich im Zehnerpack bestellt hatte.







Was bleibt, sind Nachbarn, die weiterhin nur eine Handbewegung kennen: Kostenlose Zeitung im Briefkasten? Rausziehen, auf den Boden schmeißen und sich darauf verlassen, dass sich ein anderer um ihren Müll kümmert. Gutes Übungsfeld, tief durchatmen. Ein Nachbar, den das genauso stört wie mich, trägt jeden Tag das Altpapier hinaus. Wenn er es nicht tut, mache ich es (gestern waren es wieder 20 Ausgaben). Hier könnte der Beitrag enden, mein lokales Problem ist gelöst, der Rest muss mich jetzt nicht mehr interessieren. Ich beobachte jedoch mein kleines Ego, das wutschnaubend mit den Hufen scharrt.

Weiterhin landen große Stapel ungelesener Wochenblätter zuerst am Fußboden, anschließend im Altpapier und werden schließlich von der Müllabfuhr weggekarrt. Die Papiercontainer sind jede Woche voll bis an die Kante. Jeder Container kostet Gebühren, die zahlen Mieter und Eigentümer in Form von Nebenkosten, bei uns sind das ca. 8 EUR monatlich für die Müllentsorgung. Kein großes Ding für den Einzelnen, aber in Summe wird's interessant.


Mir fehlen die absoluten Zahlen, um einmal hochzurechnen, wie groß der Berg sinnlos bedruckten Papiers jede Woche ist. Allein in Ostbayern sind es eine Million kostenlose Zeitungen, die verteilt werden, während Zeitungen mit journalistischen Inhalten seit Jahren den Bach runtergehen.

Die Arbeitsplätze! werden jetzt viele rufen.
Ja genau, da steckt eine Menge Energie drin:
  • die Forstwirtschaft, die das Holz produziert
  • die Industrie, die das Papier herstellt
  • die Logistik, die das Holz, das Papier und am Ende die Zeitungen von A nach B bringt
  • die Verlage, die Redakteure, die Werbeagenturen, die Grafiker, Fotografen, Autoren (ups, ich!), die davon leben, dass
  • Firmen Werbung machen und ihre Produkte verkaufen
  • die chemische Industrie, die die Druckerschwärze und Farben liefern
  • die Druckereien, die Papier bedrucken müssen, um ihre Mitarbeiter zu bezahlen
  • die Zusteller - Rentner, Schüler, arme Schlucker, die sich ein mageres Zubrot verdienen, weil es sonst kaum Jobs für sie gibt
  • die Leute von der Müllabfuhr und zuletzt
  • die Recycler, die aus dem Altpapier etwas Neues machen.
Habe ich jemanden vergessen?

Ja! Vater Staat kassiert bei allen Leistungen, die in dieser Wertschöpfungskette erbracht werden, ordentlich mit: Umsatzsteuer, Lohn-/Einkommenssteuer, Gewerbesteuer und noch ein paar mehr...

Der Zweck, den eine kostenlose Wochenzeitung einstmals erfüllen sollte (= Informationen, Kleinanzeigen und Werbung an alle Haushalte liefern) wird vielleicht noch zu 20% erfüllt, das ist jedenfalls meine subjektive Beobachtung. Ja, es gibt diese kleine Minderheit von Menschen, die diese Blätter lesen und auf die Werbung reagieren. Und ja: alte Zeitungen eignen sich wunderbar für alles Mögliche, z.B. wenn man umzieht, Schuhe trocknen muss, oder eine Malunterlage für den Kinderschreibtisch braucht. Aber Millionen von Zeitungen... jede Woche? Da müssen viele Wanderschuhe nass werden ;-) Die Aussage des Wochenblatts, man würde vor allem "die junge Zielgruppe" erreichen, treibt mir Lachtränen in die Augen. Ich sage nur: Pokémon-Go!

Erfolgreich zugestellt!
Mit diesen 80% Müll, den es eigentlich gar nicht geben müsste, halten wir einen Kreislauf im Gang, der unseren Wohlstand sichert. Er erzeugt eine fantastische Wertschöpfungskette, von der viele Leute absolut profitieren. Informationen per E-Mail oder im Internet abrufen ist auch nicht besonders umweltfreundlich. Wenn ich eine Alternative wüsste, würde ich sie hier verraten, von Herzen gern! Vielleicht eine Kooperation zwischen Wochenblatt und Niantic, dem Entwickler von Pokémon-Go? 




Eine App, die den Kunden zum nächsten Supermarkt lockt, weil er an der Kasse anstatt Bonusklebeherzen (Rentner!) oder Payback-Punkten (Sparfüchse!) niedliche kleine Monster gratis dazu bekommt? Das klingt wie ein böser Scherz, ist aber längst Realität.

Wir stecken in einem Dilemma und der Zeitungsmüll ist nur ein Beispiel von vielen. Bei genauer Betrachtung diverser Zusammenhänge entsteht bei mir der Eindruck, dass wir uns in einer gigantischen Blase bewegen, und dabei insgeheim hoffen, dass diese Blase niemals platzt. Es ist angenehmer, nicht darüber nachzudenken, sich in buddhistischem Gleichmut zu üben, und die Dinge so laufen zu lassen, wie sie sind. Das schont die Nerven und somit die Gesundheit. So werden wir am Ende alt. Dann werden wir das Desaster, an dem wir täglich mitbasteln, selber noch erleben.

Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun,
sondern auch für das, was wir nicht tun.


Das ist ein Zitat von Molière. Dem ist es gelungen, "die Komödie zu einer der Tragödie potenziell gleichwertigen Gattung zu machen". Nicht ärgern, lieber schmunzeln oder wenn's geht sogar darüber lachen. Always look on the bright side of life... (?) Das möchte ich an dieser Stelle auch tun:

Die frische Ausgabe Altpapier der Kalenderwoche 36
in München Giesing wartet auf Auslieferung.
Frau Fotografin freut sich über das tolle Fotomotiv.























































Wer die Hoheit über seinen eigenen Briefkasten zurückgewinnen möchte:
Hier geht's zu den RICHTIGEN Aufklebern. Wird die Zeitung trotzdem eingeworfen: Beschwerde an die Redaktion, die Mailadresse steht jeweils im Impressum. In besonders hartnäckigen Fällen: Meldung an die Verbraucherzentrale.

Das nagende Gefühl von "irgendetwas stimmt hier grundsätzlich nicht" ist schwer abzuschütteln, also werde ich weiter meditieren, und meine Beobachtungen beizeiten hier kundtun.

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Update April 2017: Dass ich nicht die einzige bin, die sich über dieses Thema Gedanken macht, ist tröstlich: Hier geht's zu Markus Pflugbeils Artikel.

Update 2018: In unserem Haus haben alle Nachbarn die Aufkleber verwendet. Es kommt nur noch ein bis zweimal im Jahr vor, dass sich ein Zusteller versehentlich in unser Haus verirrt und einen Stapel Zeitungen ablädt. Meistens handelt es sich dann um eine Urlaubsvertretung. Wir schicken dann eine Mail an den Verlag und der Stapel wird wieder abgeholt.

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