Donnerstag, 29. Juni 2017

Die Macht der Gewohnheit
















Nein, das ist kein neuer Sportplatz. Oder vielleicht doch?

Es ist wahrscheinlich typisch deutsch, dass ich mir um solche Kleinigkeiten Gedanken mache, aber die typisch deutsche Gründlichkeit,  mit der sich die Stadt München einem Alltagsproblem widmet, fordert mich geradezu heraus. Außerdem beobachte ich gerne Menschen und Situationen, und versuche, mir einen Reim darauf zu machen. 

Die hier gezeigte Wiese mit Trampelpfad kenne ich nun schon seit über dreißig Jahren. Als ich letzte Woche meine übliche Abkürzung hangabwärts joggen wollte, waren fleißige Handwerker gerade dabei, einen Zaun zu errichten. Er reichte bis zur Laterne und ich wusste sofort, was sie vorhatten: Schluss mit Lustig, hier wird jetzt nicht mehr über die Wiese getrampelt. Jawoll, dachte ich, und bog demonstrativ hinter der Laterne links ab. Ja, manchmal kann ich richtig trotzig sein und dieses Gefühl ein paar Sekunden lang auskosten. Das ist kindisch, aber es vermittelt so ein wunderbares Gefühl von Macht. Jemand will dir etwas verbieten und du tust es trotzdem. Ja, so sind wir Menschen. Manche mehr, manche weniger; die meisten handeln reflexartig, und manche tun solche Dinge ganz bewusst.

Als ich abends wieder an der gleichen Stelle vorbeikam, diesmal mit dem Fahrrad und brav auf der geteerten Strecke, war der Zaun bereits vollendet, aber kein Hindernis für einen jungen Mann, der sich elegant darüber hinweg schwang.
Seine kleine Tochter schob ihr Kinderfahrrad zögerlich unter dem Zaun hindurch. Sie musste sich leicht bücken, dabei ihr Fahrrad schrägstellen und gleichzeitig vorwärts gehen - eine echte Herausforderung. Als sie sich den Kopf an der Oberlatte ein wenig anstieß, überspielte ihr Vater die Situation geschickt mit einem fröhlichen Lachen, breitete die Arme aus, und dann gingen beide zufrieden auf dem Trampelpfad weiter. Die Botschaft war klar: Wenn ihr uns hier einen Zaun hinstellt, ist uns das völlig egal. Wir nehmen trotzdem die Abkürzung. Und so hat der Nachwuchs gleich gelernt, dass Zäune kein Hindernis darstellen. Man darf sich nur nicht den Kopf daran anhauen.
Am darauffolgenden Tag kamen die rot-weiß gestreiften Bänder hinzu, denn die fleißigen Arbeiter hatten den zertrampelten Weg zwischenzeitlich mit frischer Erde aufgeschüttet und Gras gesät. Gute Sache, eigentlich. Ja, der Trampelpfad ist in den letzten dreißig Jahren deutlich breiter geworden. Er wird immer matschiger und tiefer, vor allem wenn es längere Zeit regnet. Dann geht man aber trotzdem nicht außenherum, sondern einfach zwei Schritte neben dem durchweichten Weg, und so wird er immer breiter. Das machen alle so: Die Jogger, die Familien mit Kindern auf dem Weg zum Spielplatz, die Gassigeher, die Spaziergänger, und alle Anwohner, die es auf dem Nachhauseweg einfach eilig haben. Die Radfahrer natürlich auch.
Typisch deutsch, oder?




Wo ein Weg ist, wird er benutzt - er ist ja eh schon da, und man hat nicht das Gefühl, etwas Falsches zu tun. Die anderen machen es ja auch. Klassische Argumente. 

Wer es etwas intellektueller haben möchte: Wenn der offiziell vorgegebene Weg so bescheuert angelegt ist wie dieser, muss man sich nicht wundern, dass kein Mensch darauf gehen oder fahren mag. Der Mensch ist bequem und er folgt seiner Intuition. Wer bewegt sich denn gerne auf ein finsteres, unübersichtliches Loch zu, wo er eine scharfe 90° Kurve bewältigen muss, und Gefahr läuft, mit Passanten oder Radfahrern aus der Gegenrichtung zusammenzustoßen? Uns liegt das Abkürzen eines Wegs in den Genen: es ist kürzer, effizienter, wir sehen wo wir hinlaufen, und wir vermeiden das Risiko, hinter dem finsteren Busch von einem Raubtier angefallen zu werden. Tolle Erklärung, psychologisch und pseudowissenschaftlich fundiert. Fangen wir an zu diskutieren, wie man Fußwege idealerweise anlegen sollte, und welche behördlichen Vorschriften für eine optimale Wegführung eingehalten werden müssen? Die Leute bei der nächsten Bezirksausschußsitzung freuen sich bestimmt, wenn ich damit ankomme.

Aufklärung, freundliches Reden und Überzeugungsarbeit sind bei manchen Angewohnheiten fehl am Platz. Gegen Bequemlichkeit und Trotz helfen leider nur drakonische Maßnahmen. Es muss unangenehm sein, die Abkürzung zu wählen. Zwei Zäune oder höhere und massivere Zäune wären hier sicher wirksame Maßnahmen. Schön ist das nicht, aber in ein paar Monaten werden wir uns nicht mehr daran erinnern, dass es hier früher keinen Zaun gab. Wir sind nicht nur bequem, sondern auch vergesslich, und das hilft bei Verhaltensänderungen. Ich kann mich erinnern, dass die Eigentümer einer anderen nahegelegenen Wiese ihren Hausmeister auf die Hundebesitzer ansetzten, deren Vierbeiner regelmäßig auf die private Wiese rannten, um dort ihr Geschäft zu verrichten. Schilder und gutes Zureden brachten nichts. Jetzt befinden sich dort eine dichte Hecke und ein Zaun mit Tor. Die Hunde sind auf den öffentlichen Grünstreifen ausgewichen.

Momentan bin ich genauso skeptisch wie neugierig. Mein Prognose: Wenn die gestreiften Plastikbanderolen durchschnitten sind, werden viele Leute wieder auf dem Trampfelpfad unterwegs sein. Ich sehe jetzt schon, dass jeder halbwegs sportliche Jogger dieses Hindernis leichtfüßig überwinden wird. Die Stadt München müsste einen Aufpasser mit Trillerpfeife hinstellen, oder noch einen weiteren Zaun am unteren Ende der öffentlichen Spiel- und Liegewiese errichten, um die alte Gewohnheit zu brechen.

Weil mein interner Wertekodex es mir verbietet, junge Grashalme zu zertrampeln, werde ich künftig das Wagnis 90° Kurve eingehen und ein paar Schritte mehr machen. Das habe ich sowieso schon getan, wenn der Trampelpfad eine einzige Pampe war, und es hat mich nicht umgebracht. Im Gegenteil: ich laufe ein paar Schritte mehr und muss meine Joggingschuhe nicht so oft in die Waschmaschine werfen. Ja, ich sehe ein, dass der Trampelpfad nicht ständig breiter werden soll. Darum wünsche ich der Wiese von Herzen, dass sie sich vom jahrzehntelangen Getrampel erholen kann. Natürlich werde ich mich mit meiner Kamera auf die Lauer legen und die weitere Entwicklung beobachten. Neue Lightroom-Schlagworte könnten sein: Springende Jogger; Gewohnheitstiere; Steuergeldverschwendung... Vielleicht kommen aber auch Wörter wie ErziehungsmaßnahmeVerhaltensänderung und Naturschutz vor. Schade ist, dass wir Zäune und Mauern brauchen, um (vielleicht) zur Einsicht zu kommen.

#wiederwasgelernt
#übertragdasmalaufandereSituationen

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