Donnerstag, 5. November 2020

Redensarten: Mit dem Fahrrad...


Wenn ich morgens zur Arbeit gehe, begegnen mir viele Fahrradfahrende, wie man neuerdings korrekterweise sagt. Ich komme mit dieser neuen Formulierung nicht so gut klar. Bitte sehen Sie es mir nach, wenn ich manchmal in alte Muster zurückfalle. Sprache korrekt gendern ist umständlich. Für mich schreibt und liest es sich sehr holprig, aber das ist vermutlich eine Frage der Gewöhnung. Ja, auch das Sprachgefühl geht mit der Zeit. Sonst würden wir heute immer noch genauso schnabeln wie im Hochmittelalter, und das kann das Spracherfindende nicht gewollt haben.😏

Doch jetzt zur Geschichte, die ich Ihnen eigentlich erzählen wollte. Am Münchner Isarhochufer teilen sich Fußgänger, Jogger, Hundespaziergänger (m/w/d) und jene Fahrradfahrende einen ziemlich breiten Weg. Da ist Platz für alle, aber Murphys Gesetz besagt: Wenn zwei Radfahrende nebeneinander fahren und von weiteren Radfahrenden überholt werden, kommen garantiert Joggende oder Zufußgehende entgegen. Wie breit ein Weg auch sein mag: Es gibt immer wieder diese Schreckmomente. Abstand halten? Bremsen? Ach ne. Da geht's mittlerweile zu wie auf der Autobahn, inklusive Schwertransporter. Auch kommunikativ ist einiges los.

Vorbeiradelnde fahren manchmal freihändig, um unterwegs ihre Whatsapp-Nachrichten zu beantworten. Viele sind verkabelt und benutzen eine Freiluft-Freisprechanlage. Diese Spezies hört man wenigstens schon von Weitem und kann beim Zufußgehen rechtzeitig zur Seite springen. Wenn jemand Business-Case oder Meeting  brüllt, ist es am besten, ganz rechts an den Wegesrand auszuweichen, besser noch: den Grünstreifen benutzen. Auch manche Fußgänger (m/w/d, Sie wissen schon) telefonieren so laut, dass man denkt: Die könnten auch ohne Handy ihren Gesprächspartner erreichen. Manchmal sieht man diese Menschen gar nicht zwischen den dichten Büschen im Park, aber man hört sie hervorragend. Wenn die wüssten, dass jemand zuhört... 😅

"Der Mensch, und insbesondere der Deutsche, ist ein selbstgefälliger Egozentriker", erklärte neulich jemand im Vorbeiradeln. Ausgezeichnetes Deutsch, sehr gut vorgetragen - ich habe sogar die im Satz gesetzten Kommata deutlich vernommen. Wow! Mein erstaunter Gesichtsausdruck kam beim Gegenüber noch an. Ertappt? Keine Ahnung. Vielleicht war es ja nur ein Zitat. All diese vorbeifliegenden Sätze sind völlig aus dem Zusammenhang gerissen, aber sie eröffnen einen ganz neuartigen Kosmos. Wenn Autofahrende aufs Zweirad umsteigen, vergessen manche, dass sie nicht in einer voll abgeschirmten Blechdose sitzen. Sekunden nach dem Egozentriker-Zitat überholte mich eine Frau, deren kleiner Junge hinten auf dem Kindersitz festgeschnallt war. Damit Auf-dem-Gepäckträger-Sitzende hören können, was Fahrradlenkende vorne sprechen, muss es natürlich lauter vorgetragen werden. Man kommt einfach nicht umhin mitzuhören.

"Mit dem Fahrrad ist es nicht weit", erklärte die Mutter ihrem Kleinen. 
Der grundsätzlich meditative Ansatz meines Morgenspaziergangs fand ein abruptes Ende. Ich musste nachdenken, und das ist das Ende jeder Meditation. Ich rechnete nach.
Wenn die KiTa von zuhause drei Kilometer entfernt ist, ist es zu Fuß genauso weit wie mit dem Fahrrad - drei Kilometer eben. Mit dem Auto ist es wahrscheinlich umständlicher und tatsächlich weiter, weil man nicht gegen die Fahrtrichtung durch Einbahnstraßen brettern darf. Oder es dauert länger weil man nicht über Fuß- oder sogenannte Schleichwege ans Ziel kommt. Die KiTa ist nicht weiter weg von zuhause, aber mit dem Fahrrad kann man Abkürzungen nehmen. Das kann man nicht alles in der vollen Komplexität einem Dreijährigen ausdeutschen. So lernen wir schon in jungen Jahren Redewendungen, über die wir später nicht mehr nachdenken. Warum auch?

Der frühe Vogel fängt den Wurm - das sagen wir heute, obwohl es eine Rückübersetzung aus dem Englischen ist. Morgenstund hat Gold im Mund klingt viel anmutiger als das Gleichnis mit dem Wurm, ist aber aus der Mode gekommen und wirkt altbacken. Wenn jemand diesen Spruch wörtlich nimmt, fällt er bei der Goldsuche natürlich auf die Nase oder kommt in den Wald. Dort könnte ihm jemand das Fell über die Ohren ziehen, und am Ende beisst er vielleicht noch ins Gras! Ja, liebe KI, da hast Du was zu tun, wenn Du wirklich verstehen willst, was gemeint ist, aber Du lernst schneller dazu als die menschliche Spezies. Wirst Du uns auch noch zeigen, was eine Harke ist? Derweil lausche ich bei  meinen morgendlichen Spaziergängen weiter und bin gespannt, welche skurrilen Zitate ich bei der nächsten Gelegenheit aufschnappe. 😏 


Weiterführende Links

TV-Tipp: Capriccio (BR) Redensarten - 6 Minuten in der Mediathek
Buchtipp: Rolf Bernhard Essig "Redensarten von Kopf bis Fuß" (Amazon)
Externer Link zum Stöbern: Redensarten-Index  oder redensarten.net
DeepL - Übersetzungsmaschine 
Murphy's Gesetz - Wikipedia


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