Mittwoch, 30. Januar 2019

Intelligente Kleidung




.
Können Sie sich an Ihre nächtlichen Träume erinnern? Bei mir klappt das meistens ganz gut. Wenn ich diese Träume nicht sofort aufschreibe, verlieren sich die Erinnerungen sehr schnell. Besonders ungewöhnliche oder eigenartige Szenen behalte ich länger im Kopf. Neulich erlebte ich im Traum eine Zen-Meditationssitzung. Das Besondere daran war die Kleidung die ich trug: sie war smart und überwachte meine Körperfunktionen. Ich brauchte nicht einmal ein Smartphone mit irgendeiner App, wie es sie für Fitnessanwendungen längst gibt. Ich benutze so etwas nicht, aber mein Gehirn weiß natürlich, dass es diese Dinge gibt.

Beim Meditieren müssen Handys draußen bleiben, deshalb wäre so eine App ungeeignet für diesen Zweck. Stattdessen war an meinem "geträumten" T-Shirt ein elektronisches Etikett angebracht, auf dem eine Liste mit einigen Parametern angezeigt wurde. Anhand gesetzter Häkchen signalisierte mir das Etikett, ob ich mehr oder weniger effektiv meditiert hatte. Lassen wir einmal die Frage beiseite, ob man wirklich effektiv meditieren kann, und wie man das messen könnte. Was mich nach dem Aufwachen natürlich sehr interessierte: Gibt es so etwas schon in Echt?


Dass smarte Kleidung schon seit Jahren entwickelt wird, ist kein Geheimnis. Internet sei Dank: Es dauerte nur wenige Minuten, bis ich dazu etwas gefunden hatte. Die Links finden Sie am Ende des Artikels. Zwar gibt es noch keine Meditations-T-Shirts, wohl aber Yoga-Bekleidung, die dem Übenden durch sanfte Vibrationen des Materials in Echtzeit signalisiert, ob eine Übung korrekt ausgeführt wird. Diese Hosen und Hemden müssen noch von Hand gewaschen werden, überstehen wohl aber schon den Wäschetrockner.
Wow...?

Fragen über Fragen!
Wie gut funktioniert diese Kleidung? Ich habe noch nicht recherchiert, ob es dazu Erfahrungsberichte gibt. 250 US Dollar für eine smarte Yogahose, die ich für einen Test aus den USA importieren müsste, will ich auch nicht ausgeben. Sind solch moderne Dinge für den europäischen oder deutschen Markt überhaupt schon zugelassen? Wenn sie funktionieren und wenn sie sich verbreiten: Welche langfristige Auswirkung hätte das auf die Träger solcher Kleidung? Auf der Seite Trends der Zukunft kommt man zu dem Schluss, diese Kleidung sei "eine klasse, intuitive Art auf eine gesündere Körperhaltung zu achten." Ist das wirklich so? Auf den ersten Blick: ja. Und dann?

Ein Gedankenexperiment
Stellen wir uns vor, wir leben in einer Welt, in der smarte Kleidung und Selbstoptimierungs-Apps genauso weit verbreitet sind wie Smartphones. 

Yogalehrer oder Fitnesstrainer brauchen wir jetzt immer weniger oder gar nicht mehr. Wir können alles ganz allein machen, unser smarter Begleiter ist ständig verfügbar. In der Einteilung unserer knappesten Ressource - der Zeit - sind wir noch freier, weil wir uns mit niemandem mehr verabreden müssen. Die App ist kostenlos und die Kleidung günstiger als ein Yogakurs in einem Studio, für das Yogalehrer Miete bezahlen und entsprechend hohe Kursgebühren verlangen müssen. Wir sparen Zeit und Geld und können uns in jedem Lebensbereich selbst optimieren.

In dieser - vielleicht nicht allzu fernen - Zukunft würden sich die meisten Leute mehr und mehr auf solche Anwendungen verlassen. Diese würden uns in jeder Lebenslage rückmelden, was gut und was richtig ist. Sie würden uns warnen, wenn etwas nicht so läuft, wie es die einprogrammierten Parameter nahelegen. Es könnte kommen wie bei Navigationsgeräten, denen viele moderne Menschen ihre eigene Fähigkeit zur Orientierung bereits geopfert haben. Wenn wir uns an smarte Feedbackkleidung genauso gewöhnen, und diese einmal nicht zur Verfügung steht, würden wir uns eher unsicher fühlen. Wir hätten vielleicht gar kein eigenes Gespür mehr dafür, wie sich eine richtig ausgeführte Yogaübung anfühlt. Gerade beim Yoga und beim Meditieren geht es genau darum: selbst spüren, was im Körper (und im Geist) los ist - Achtsamkeit erleben und erfahren. Unser Körper gibt ständig Rückmeldungen ans Gehirn, die wir wahrnehmen können, wenn wir unsere Aufmerksamkeit dafür trainieren. Smarte Funktionskleidung funktioniert hier im besten Fall wie ein Verstärker, aber dieses Signal führt nicht automatisch dazu, dass der Kleidungsträger aufmerksamer und achtsamer wird. Im Gegenteil: diese wichtigen inneren Feedbackschleifen werden ausgelagert und einem technischen Verfahren überantwortet. Eine von "Experten" programmierte Anwendung, der wir vertrauen wie einem Navi, könnte vielen Leuten dann immer häufiger sagen, wo es langzugehen hat: Körperhaltung, Atmung, Puls, Blutdruck, Stimmungslage... alles im grünen Bereich? Komplett ferngesteuert!?

Die Geister, die wir rufen, haben einen Preis... den wir heute noch gar nicht kennen. Vielleicht denken Sie jetzt, diese Horrorvision wäre sehr weit hergeholt. Momentan glaube ich auch nicht, dass wir in Zukunft nur noch smarte Kleidung tragen und von solch exotisch anmutenden Anwendungen abhängig werden könnten. Andererseits habe ich mir vor fünfzehn Jahren aber auch noch nicht vorstellen können, wie sich das mit den Smartphones entwickelt. 


Wie bereits erwähnt benutze ich aus Prinzip keine Fitness-Apps, aber im Winter jogge ich regelmäßig auf dem Laufband im Fitnessstudio. Auf den Geräten habe ich ständig die großen Anzeigetafeln im Blick: Wie schnell bin ich, wie weit bin ich schon gelaufen und wie lange bin ich schon unterwegs? Ich kann sogar die Hände an zwei Griffe legen und die Herzfrequenz  messen lassen. Das mache ich manchmal, um zu überprüfen, wie das, was ich spüre, in Zahlen ausgedrückt wird. Durch die vielen Parameter, die eher langweilige Umgebung und das gleichmäßig glatte Laufband bin ich im Studio viel konzentrierter, ich laufe grundsätzlich schneller und bin ergebnisorientierter. Joggen in der Natur macht mich aber viel glücklicher: Dort höre ich die Vögel zwitschern, spüre die Außentemperatur, die Luftfeuchtigkeit und den wechselnden Untergrund, über den ich laufe. Ich rieche, wie sich die Landschaft und die Natur mit der Jahreszeit und dem Wetter verändern, und ich sehe den Weg vor mir. Ich muss aufpassen, wo ich hintrete, damit ich im Park nicht über eine Wurzel stolpere. Ich weiß zwar nicht, wie schnell ich unterwegs bin, aber ich merke sehr wohl, ob ich mich anstrenge oder nur gemächlich vor mich hintrabe. Es wäre mir ein Graus, wenn mich mein T-Shirt und meine Jogginghose ständig daran erinnern würden, ob ich langsamer oder schneller bin als beim letzten Mal. Natürlich benutze auch ich praktische Dinge wie Telefone, Computer und Terminkalender, lasse mich an wichtige Ereignisse erinnern und ziehe eine Karte zu Rate, wenn ich irgendwo hin muss. Diese wunderbar nützlichen Assistenten sind wunderbare Diener, aber ich würde sie nicht zu meinen Herren machen. 
 


Weiterführende Links

2 Kommentare:

oli hat gesagt…

...ich sage jetzt nicht, dass ich eine SmartWatch habe und mich durchaus von deren netten Tritten in den Hintern motivieren und anspornen lasse und mittels den "KPI"s am Ende des Training einen kleinen Fortschritt erkennen kann - den ich übrigens noch besser spüren als am Display sehen kann. Selbst beim Tai Chi lasse ich meinen Puls messen. Vielleicht weil ich es kann. Vielleicht weil ich ein Nerd bin.
Das Smartphone ist ziemlich Tod - die Zukunft gehört solchen "smarten Pullis/Stirnbändern, Uhren" oder: am ehesten Brille/Kontaktlinse. Abwarten.

betrachtenswert hat gesagt…

Ja, mal sehen - mit der augmentierten Kontaktlinse?
Reden wir in drei bis fünf Jahren nochmal über das Thema :-)