Kennen Sie das Märchen von Hans Christian Andersen? Es handelt von einem Kaiser, der sich von zwei Betrügern für viel Geld neue Gewänder weben lässt. Diese machen ihm vor, die Kleider seien nicht gewöhnlich, sondern könnten nur von Personen gesehen werden, die ihres Amts würdig und nicht dumm seien. Tatsächlich geben die Betrüger nur vor, zu weben und dem Kaiser die Kleider zu überreichen. Aus Eitelkeit und innerer Unsicherheit erwähnt er nicht, dass er die Kleider selbst auch nicht sehen kann und auch die Menschen, denen er seine neuen Gewänder präsentiert, geben Begeisterung über die scheinbar schönen Stoffe vor. Der Schwindel fliegt erst bei einem Festumzug auf, als ein Kind sagt, der Kaiser habe gar keine Kleider an. Diese Aussage verbreitet sich in der Menge und das ganze Volk eilt herbei, um sich das anzuschauen. Der Kaiser erkennt, dass das Volk recht zu haben scheint, entscheidet sich aber, die Sache durchzuziehen. Er und der Hofstaat setzen die Parade fort.
Als ich letztes Wochenende an zwei Kästen mit Münchner Tageszeitungen vorbeilief, wurde ich an dieses alte Märchen erinnert. Die grandiosen Schlagzeilen der TZ und der BILD München priesen die Vorteile des Stadtwanderns an, ein ganz neuer Trend, der ähnlich genial ist wie das Waldbaden, über das ich vor kurzem berichtet hatte. Früher nannte man das Spazierengehen oder zu Fuß gehen, aber das ist wohl nicht gemeint. Stadtwandern richtet sich offenbar an ein Zielpublikum, für das Wandern uncool und altmodisch ist. Wer Joggen zu anstrengend findet und keine Lust auf Nordic Walking hat, kann jetzt Stadtwandern. Eine bisher unentdeckte Nische im Reigen der gesunden Freizeitaktivitäten hat sich aufgetan!
Der geneigte Leser erfährt deshalb aus der Tageszeitung, dass er sich beim Stadtwandern bloß nicht überfordern soll, lieber mit kurzen Strecken anfangen möge, dazu gutes Schuhwerk braucht - wetterfeste Kleidung natürlich auch. Absolut wichtig: die Wettervorhersage beachten! Wer hätte das gedacht.
Wenn ich jetzt Harry G. wäre, würde ich ein Youtube-Video drehen und in die Kamera plärren, ob's dene ins Hirn gschiss'n ham?!
Sind die Leute wirklich so blöd, dass man ihnen per Tageszeitung das Zu-Fuß-Gehen als neuen Trend verkaufen kann? Oder sind moderne Menschen so gelangweilt, dass sie auf wirklich jedes noch so banale Allerweltsthema aufspringen, nur weil es in der Zeitung steht? Gibt es wirklich nichts Wichtigeres als Aufmacher für eine Tageszeitung? Nun ja, am Wochenende sind Themen wie "Die schönsten Ausflüge ins Umland" oder "Münchens beste Biergärten" immer schon beliebt gewesen.
Ich wechsle deshalb zu den Verschwörungstheorien: Könnte dies der Auftakt für eine neue Marketingkampagne sein, deren eigentliches Sinnen und Trachten darin besteht, dem unsportlichen Stadtbewohner Fitnessschuhe und Stadtwanderbekleidung anzudrehen? Oder haben sich die Krankenkassen verbündet, um die übergewichtigen und faulen Couch-Potatos vom Sofa zu holen und die Volksgesundheit mit einfachen Mitteln zu verbessern? Sind hier etwa verkappte Umweltaktivisten am Werk, die das Autofahren subtil bekämpfen? Vielleicht ist es auch ein strategischer Schachzug der Münchner Verkehrsbetriebe, die ihre übervollen öffentlichen Verkehrsmittel entlasten wollen?
Als ich meiner Mutter von diesen Schlagzeilen berichtete, lachte sie amüsiert. "Weißt du, als die Straßenbahnlinie 1 noch über den Marienplatz fuhr, war sie oft so voll, dass man gar nicht mehr reinkam. Ich bin damals nach Feierabend immer vom Marienplatz bis zum Ostbahnhof gelaufen."
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich bin absolut dafür, dass viel mehr Menschen viel mehr zu Fuß gehen. Das ist ziemlich gesund, wenn man nicht gerade am Mittleren Ring oder die Sonnenstraße entlangspaziert. Wenn man dazu einen Trend kreieren muss - meinetwegen. Der Zweck heiligt die Mittel. Die Frage ist nur: wer profitiert wirklich vom Stadtwandern?
Eine kurze Recherche zeigt, dass das Thema nicht brandneu ist. Schon vor zwei Jahren hat man versucht, Stadtwandern anzupreisen. "Das Wandern ist des Müllers Lust war gestern. Heute ist Urban Hiking ein Trend", heißt es da auf einer Seite für junge Leute. Medial gestützt wird der Trend von herunterladbaren GPS-Karten fürs Smartphone, damit man sich unterwegs nicht verläuft. Willkommen im 21. Jahrhundert!
Das Wanderlust-Magazin bringt es schließlich auf den Punkt: "Der Outdoor-Kunde von heute ist technisch wesentlich versierter als früher. GPS-Navigationsgeräte und Actioncams gehören heute zur Ausrüstung dazu. (...) Den typischen Wanderer gibt es nicht mehr – die Zielgruppe ist vielschichtiger geworden. Das ist auch einer der Hauptgründe, warum die Outdoor-Branche in den letzten Jahren diesen Boom erlebt hat." Diese Marketingleute sind sowas von genial... Hans Christian Andersen könnte ein modernes Märchen schreiben! Ich könnte derweil meine als Schnapsidee klassifizierten Fotofitnesskurse wieder aus der Schublade holen. Frühsport mit der Kamera ist auch ausgesprochen gesund! Kaufen Sie sich dafür eine Actioncam, das macht (Ihren Geldbeutel) garantiert schlank und Sie können beruhigt auf dem Sofa liegenbleiben, weil Sie die Wirtschaft angekurbelt haben.
Siehe auch: Waldbaden, Dazulernen, Sleepshirt oder Businessjogger?, hometogo 1982, #BullshitBingo, Dornröschen, Hutanfall, Niesmitlust
Weiterführende Links
Des Kaisers neue Kleider: Märchen beim Projekt Gutenberg lesen geht leider nicht mehr, es musste seine Pforten schließen - wieder mal einer dieser unsäglichen Vorgänge... (lesen.net)
Der Text ist bei maerchen.com verfügbar.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen