Montag, 18. April 2022

Hutanfall

#Schattenselfie  #Hutanfall  #Lifestyle  #Mode

Es gibt so viele schöne, nein, wirklich tolle und kreative Kopfbedeckungen. Aber WARUM sieht man im Straßenbild seit gefühlten Jahrzehnten vorrangig Variationen von Baseball-Käppis? Mein Mann nennt diese Dinger #Deppenhelme, aber Stopp: Wir müssen ein bisschen differenzierter an dieses Thema rangehen, sonst ist gleich wieder jemand todbeleidigt.

Nicht jedes Käppi ist automatisch ein Deppenhelm, und außerdem - so hat meine heutige Google-Recherche ergeben - ist Deppenhelm derzeit noch kein einschlägig bekannter Fach- oder Schmähbegriff. Es wird also Zeit, den Deppenhelm genauer zu definieren, damit er in die Modegeschichte eingeht, und einen eigenen Wikipedia-Eintrag bekommt. Ich helfe gerne! 😁

Depp ist ein bayerisches Wort für einen ungeschickten Menschen, eine Bezeichnung für einen Tölpel oder Dummkopf. Es ist ein noch relativ moderates Schimpfwort für einen Idioten. So jemand ist nicht unbedingt absichtlich ein Depp, er kann es halt nicht besser, also Nachsicht walten lassen. Wenn Sie bei Google "Depp" eingeben, erfahren Sie, dass Depp aus Owensboro, Kentucky, USA stammt. Natürlich, wieder so eine Verwechslung. Woher sollte Google auch wissen, dass ich den bayerischen Begriff suche, und nicht den amerikanischen Schauspieler. Aber es ist eine amüsante Koinzidenz, dass sich der Depp aus Owensboro wie ein bayerischer Depp verhält. Da scheint die Redewendung "Nomen est omen" zuzutreffen: Der Name ist ein Zeichen - oder auch Programm. Vielleicht bin ich da gerade einer Verschwörung auf der Spur! 😎

Nun zum Helm: Stand heute (18.4.22) zeigt Google mir bei der Bildsuche ganz spezielle, weil offene Motorradsturzhelme, wenn ich nach "Deppenhelm" suche. Wahrscheinlich liegt es daran, dass diese Helme keinen echten Schutz bei Stürzen bieten, sondern lediglich der Form halber getragen werden, um den Auflagen der Helmpflicht Genüge zu tun. Somit wären die Träger solcher Helme Deppen, weil sie sich im Straßenverkehr unnötig in Gefahr bringen. Oder trägt Johnny Depp gerne so einen Helm, und sie sind deshalb nach ihm benannt? Sehen Sie, das wäre jetzt wieder ein Fall für den Fakten-Check, oder eine tolle Rätselfrage für eine Quiz-Sendung. Gefragt, gejagt...
Bei Instagram gibt es momentan exakt zwei Fotos zum Hashtag #Deppenhelm. Diese beiden Bilder wiederum zeigen nicht die vorhin erwähnten Sturzhelme, und auch nicht den Schauspieler. Wir kommen der Sache näher: Man sieht einen Mann mit Baseball-Käppi, und jetzt Achtung: Er trägt sie verkehrtherum, also mit dem Schirm im Nacken. Das ist es, was meinen Mann so irritiert.

Zweiffellos praktisch!
Die Baseball-Kappe hat in vielen Situationen eine absolute Berechtigung, auch beim Tennis oder Golfspielen, oder in allen Lebenslagen, in denen es auf eine blendfreie Sicht ankommt. Zudem schützt der Stoff vor einem Sonnenbrand oder Sonnenstich, insbesondere wenn das Haupthaar nicht mehr so üppig wuchert. Das wiederum erklärt, warum dieser Mützentyp bei Männern tendenziell gefragter ist als bei Frauen.

Was als Kopfbedeckung von Baseball-Spielern in den USA begann, ist mittlerweile allgemein Teil der Freizeitbekleidung und der Dienstkleidung vieler Behörden und anderer Organisationen, erfährt man bei Wikipedia. Und weiter: "Die Trageweise mit dem Schirm nach hinten stammt ebenfalls aus dem Baseballsport selbst, wo manche Positionen eine Schutzmaske vor dem Gesicht tragen, die sich nicht mit dem Schirm vorne verträgt." Aaah!! 😃 Das kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen.

Fotografenleid
Auch ich habe so ein Käppi im Fundus, trage es aber ungern, weil es mich beim Fotografieren stört. Als old-school Fotogräfin benutze ich bei meinen großen Kameras immer noch den Sucher. Das muss ich heutzutage vielleicht erklären: Ein Sucher ist dieses kleine Guckloch oben an der Kamera, wo man mit einem Auge durchgucken und sich ziemlich genau anschauen kann, wie die Kamera das Bild aufnehmen wird. Dazu muss man mit dem Kopf ganz nahe ans Gerät. Spätestens dann, wenn man die Kamera ins Hochformat kippt, kollidiert der Mützenschirm mit der Kamera. Dann verrutscht die ganze Kappe, und man sieht aus wie ein schusseliger Honk, auch ein Synonym für "Depp", (nicht der Schauspieler), und in diesem Fall ist die Schirmkappe eindeutig ein depperter Helm. 

Mit dem Auf- und In-Mode-Kommen von Live-View Monitoren an der Kamerarückseite, und durch die Smartphonefotografie sind diese Sucher aus der Mode gekommen, manche Kameras haben so etwas gar nicht mehr. Unter Profis ist der Sucher aber immer noch ein Markenzeichen, und auch den umgekehrt aufgesetzten Helm sieht man in Fotografenkreisen häufig. Jetzt wissen Sie warum. Sucher, Kollision > Mütze andersherum. Aber gäbe es nicht auch andere Lösungen? Schicker, eleganter, kreativer?

Diese Ausführungen erklären nur zum Teil, warum Leute, die sonst nichts vor dem Gesicht haben, ihre Mützen verkehrtherum, oder gar mit der Schirmkappe Richtung Ohr aufsetzen. Sind das Geheimbotschaften unter Mützenträger:innen, ist es eine Art esoterische Kompassfunktion, von der ich noch nichts weiß, oder sind Käppiträger:innen vielleicht gefährlicher als Leute mit Aluhüten? Wir haben noch gar nicht von den Hip-Hop-Käppis gesprochen, die in einschlägigen Kreisen zur Grundausstattung gehören.

Hip-Hop-Kappen
zeichnen sich dadurch aus, dass sie größer, auffälliger und voluminöser sind, als die klassischen Baseballmützen. Vor allem nach oben hin ist viel Luft. Zwischen Kopfoberseite und Mützendeckel befindet sich ein Hohlraum, in dem die Kopfhaut freier atmen kann. Ob das für den Haarwuchs vorteilhaft ist, müsste wissenschaftlich noch genauer erforscht werden. Von außen betrachtet sieht der Kopf des Käppiträgers größer aus, und das suggeriert mehr Hirnvolumen. Bei ausgiebigen Feldforschungen im medialen Bereich zeigt sich jedoch eine eher umgekehrte Korrelation: Je größer der Helm, desto geringer die Hirnaktivität darunter. Man sieht solche Käppiträger nie ohne ihre Kopfbedeckung, darum weiß man auch nicht, ob sie in diesem Hohlraumbiotop niedliche Küken oder Dinosauriereier ausbrüten. Oder es ist in Wirklichkeit ein mit Zuckerwatte ausgestopfter Sturzhelm, der im Zweifelsfall auch vor zusätzlichen Schäden am Kopf schützt? Mit Sonnenlicht kann dieser Deckel jedenfalls nichts zu tun haben, denn er wird auch in Innenräumen, nachts, und von manchen Protagonisten sogar bei Porno-Dreharbeiten getragen. Untenrum nix, aber oben gut geschützt...?

Mode im Stillstand
Mode gilt ja gemeinhin als etwas, das sich schnell verändert. Wenn gerade wieder Orange oder Neongelb als Trendfarben feilgeboten werden, kann man das normalerweise gut aussitzen. In drei Monaten ist es vorbei, dann kommt Spinatgrün mit Pink. Beim Deppenhelm scheinen andere Regeln zu gelten, das ist der VW Käfer unter den Kopfbedeckungen: Und er läuft, und läuft, und läuft...
Ich schrieb weiter oben, dass es diese Mützen schon seit gefühlten Jahrzehnten gibt, und Wikipedia untermauert meinen subjektiven Eindruck mit Fakten:

  • In Deutschland wurde die Baseballmütze erstmals in den 1970er Jahren (!) unter Jugendlichen beliebt. 
  • Ab Anfang der 1980er Jahre kam die Mode auf, die Mütze mit dem Schirm nach hinten zu tragen. Das ging zunächst von amerikanischen Straßengangs aus, verschiedene Jugendszenen übernahmen dieses Erscheinungsbild. 
  • Mitte der 1990er Jahre trugen zwischen 10 und 40 Prozent der beobachteten Studenten ihre Baseballcaps verkehrt herum. (Ey, schon 25 Jahre bis hierhin!)

In dieser legendären Ära der Geschmacklosigkeit hielt die sehr preiswert herzustellende Baseballmütze Einzug in der Uniformmode deutschsprachiger Länder. Sie verdrängte die bis dahin bevorzugte Berg- beziehungsweise Arbeitsmütze und andere traditionelle Kopfbedeckungen. Bis heute ist sie in vielen Behörden sowie staatlichen und zivilen Organisationen und Vereinen Standard.

Institutionalisierte Konformität
Aaargh. Diese Käppis sind Berufsbekleidung! Kein Wunder, dass sie einfach nicht totzukriegen sind. Es ist halt wieder die Bequemlichkeit, die siegt: Sehr preiswert herzustellende Lappen in Universalgröße. Die genaue Passform einer Baseballmütze wird durch elastische Bänder mit Klett- oder Klemmverschluss eingestellt. Das Ding passt wirklich auf jeden Kopf, ob groß oder klein. Es braucht wenig Platz im Schrank, bleibt in Form, weil es meistens keine hat, und kann gewaschen werden. Gut ist auch, dass man prima Firmenlogos drauf drucken kann. Der Träger fungiert gleich noch als Werbeträger für die Marke oder ein Unternehmen, und die Käppis kann man teuer verkaufen, wenn das richtige Logo drauf ist. Minimaler Aufwand, maximaler Gewinn. So viele Vorteile auf einmal hat kein anderes Hutmodell zu bieten.

Vorbildlich
In Amerika, wo diese Mützen herkommen, ist Baseball Nationalsport, so wie bei uns der Fußball. Da haben die Spieler als Käppiträger natürlich eine prägende Vorbildfunktion. "New Era ist der exklusive Hersteller der Baseballcaps, die in der Major League Baseball (MLB) von jedem Team während der Spiele getragen werden (müssen)." Ja, Trikotwerbung haben wir auch, aber deshalb tragen wir nicht ständig Fußball-Trikots. Auf den Köpfen unserer Fußballer:innen wären noch Werbeflächen frei. Könnte man nicht jedem einen Helm aufsetzen, damit beim Kopfballduell oder beim Köpfen des Balles keine Gehirnerschütterungen oder ernste Spätfolgen auftreten, die es nachweislich gibt? Ich weiß zwar nicht, ob das gut aussieht (siehe Wasserball), aber so ein Helm hätte neben dem Marketingnutzen auch einen gesundheitsrelevanten Mehrwert.

Fang den Hut!
Wussten Sie, dass die ersten Baseballmützen gar keinen Schirm hatten? Interessant ist auch, dass die Sportler vor der Erfindung dieser Käppis Strohhüte trugen! Anfang des letzten Jahrhunderts waren sogenannte "Kreissägen"-Hüte in Mode, flache helle Strohhüte für Männer. Die gibt es immer noch, aber man sieht sie nur auf Themen-Parties - Die wilden Zwanzigerjahre. Immerhin erfreuen sich Strandhüte einer gewissen Beliebtheit. Doch schon beim ausladenden mexikanischen Sombrero scheiden sich die Geister. Das  kann daran liegen, dass Mexikaner in amerikanischen Wildwest-Filmen oft als dumme Idioten (Deppen) dargestellt wurden. Ist dieser Sombrero vielleicht ein historischer "Deppenhelm"? Als Faschingsverkleidung geht er heute nicht mehr, das wäre "kulturelle Aneignung" und somit verpönt.

Hutkultur
Was würde wohl ein Türsteher sagen, wenn jemand einen Zylinder für's abendlich elegante Ereignis im angesagten Club der Stadt wählte? Altmodisch, aber vor hundert Jahren durchaus üblich. Die Geschäftsleute in London tragen auch keinen Bowler Hat mehr. Die schwarze Melone von Pan Tau fand ich immer klasse und sehr elegant, bis Stanley Kubrick sie diesen fiesen Typen im Film Clockwork Orange aufgesetzt hat. Es ist schon wichtig, wer welchen Hut trägt, damit man den Hut sympathisch oder cool finden kann. Seit dieser Geschichte mit dem Demonstranten, der einen schwarz-rot-goldenen Anglerhut aufhatte, ist der Sympathiewert für diesen Bucket Hat sehr gesunken. Filmen Sie mich nicht ins Gesicht! Nein, mit so einem Hut sowieso nicht.

Klar, Kopfbedeckungen sind nicht nur Mode-, sondern auch Geschmackssache, und nicht zuletzt eine Frage der Kopfform. Welcher Hut-Stil passt am besten zu jemandem? Da braucht man Gespür. Beim Deppenhelm  erübrigt sich das, eine Größe für alle. Es ist eben eine Art Uniform.

Cowboy oder Mafioso?
Ein moderner Hut-Trendsetter ist die Figur Walter White, alias Heisenberg, in der Serie Breaking Bad. Mit seinem Porkpie Hut ist er zu einer Ikone geworden. Es gibt sie, die wirklich modebewussten oder gar individuell behuteten Männer, die gegen den Strom des Einheits-Uniformismus schwimmen. Denken Sie an Udo Lindenberg oder an Roger Cicero. In kreativen Berufen ist es viel einfacher unkonventionell zu sein. Wobei: Helmut Schmidt mit seiner hanseatischen Schiffermütze ist mir heute noch im Gedächtnis. Stellen Sie sich den Altkanzler mit einem Hip-Hop-Deckel vor. Unsäglich. Helmut Kohl hatte da zuletzt nicht so viel modischen Feinsinn, aber vielleicht hat er gar nicht mehr mitbekommen, was man ihm da auf die Glatze gesetzt hatte.

Nicht mehr zeitgemäß
Bei der Wahl der Kopfbedeckung ist zu bedenken, dass Baseballmützen der Jugendkultur des letzten Jahrhunderts entstammen. Es mag sein, dass man jugendlicher wirkt, wenn man sich im fortgeschrittenen Alter der modischen Stilmittel der Enkelgeneration bedient. Das birgt jedoch gewisse Risiken. Die Kids reagieren womöglich schnell und finden etwas viel Schickeres! Dann sehen wir Alten mit unseren Deppenhelmen doppelt alt aus, wie einst der Urgroßvater mit seiner Pickelhaube.

Generation Klon
Vielleicht sagen Sie jetzt: Der Deppenhelm ist funktional und etabliert, da macht man nix verkehrt. Punkt für Sie. Wenn Sie nicht auffallen wollen, taugt das Baseball-Käppi inzwischen gut als Tarnhaube. Da muss man sich nicht wundern, wenn man auf der Straße nicht erkannt, oder mit dem anderen neuen Nachbarn verwechselt wird, der auch einen Vollbart hat, Brille trägt, und irgendsoeine Schirmmütze.
Hüte tragen erfordert Mut, sagen manche. Ja, wie wäre es denn mal mit einem #Hutanfall? "Den neugierigen, anerkennenden Blicken Ihrer Mitmenschen können Sie ganz klar gewiss sein", schreibt eine junge Modebloggerin abschließend in ihrem Artikel über die "Geschichte des Huts". Das ist bei ihr eine sehr kurze Geschichte, aber junge Leute lesen nicht so gerne so viel an einem Stück. Vielleicht ändert sich das, wenn der Deppenhelm "out" ist?

Weg mit dem alten Hut!
Die Recherche für diesen Beitrag hat mir gezeigt, dass es allein für den modebewussten Herrn viel mehr Arten von Hüten und Kopfbedeckungen gibt, als es das allgemeine Straßenbild vermuten ließe. Von den Damen ganz zu schweigen. Schauen Sie sich einfach mal um, zuerst auf der Straße, dann im Internetz. Vielleicht finden Sie einen "Style", mit dem Sie zumindest das äußere Erscheinungsbild dieser Welt ein klein wenig verändern können. Sind wir nach über fünfzig Jahren Baseball-Käppi bereit für etwas Neues?

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