Mittwoch, 10. Juni 2020

Philosophische Poesie

Den offenen Bücherschrank am Münchner Kolumbusplatz mag ich besonders gerne. Wahrscheinlich liegt es daran, dass es sich um eine alte Telefonzelle handelt, die auf diese Weise eine wunderbare neue Funktion bekommen hat. Sie ist stets prall gefüllt mit Lesestoff, und die Bücher sind vor Regen gut geschützt. Momentan ist kaum noch Platz, um etwas Neues hineinzustellen, darum habe ich vor ein paar Tagen etwas mitgenommen. Eigentlich bin ich kein Freund von Gedichten, aber was mir da in die Hände gefallen ist, war eine echte Überraschung.





Wenn Sie etwas älter sind, kennen Sie sicher diese schwarz-roten Notizbücher. Ich glaube sie waren in den 1980er Jahren in Mode. Wir hatten noch keine Computer, keine Handys und kein Internet - wir lasen Bücher. 😏 Als ich dieses Notizbuch mit handgeschriebenen Gedichten im Bücherschrank entdeckte, dachte ich, der oder die BuchspenderIn hätte sie selbst verfasst. Irrtum.

Es handelt sich offenbar um eine Sammlung von Gedichten, die jemandem besonders gut gefallen haben, und der/die sich anschließend die Mühe gemacht hat, alles in das Notizbuch zu übertragen. Wow. Die Namen der Autorinnen und Autoren, die diese Gedichte verfasst haben, sind säuberlich aufgelistet. Heute würde man sich Bookmarks setzen oder die Gedichte in ein elektronisches Dokument kopieren, um sie aufzubewahren. Vielleicht ist das mit diesem Gedichtebuch inzwischen auch geschehen, es wurde digitalisiert und war danach überflüssig? Oder die Texte haben für den/die SammlerIn heute keine Relevanz mehr. Vielleicht erfahre ich das noch. 😀

Ein Gedicht in diesem Buch kennen auch Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit: Es ist, was es ist von Erich Fried. Oder Ihnen sagt der Name Christiane Allert-Wybranietz etwas? Ihre tiefsinnigen "Verschenktexte" waren in den 1980ern Bestseller. Das brachte wiederum den Humoristen Tetsche auf den Plan für eine Parodie: „Trotz alledem - Texte, die man sich schenken kann“ von Kristiane Ballert-Pyrowitz. Ja, Poesie ist Geschmackssache.

Für mich gab es dennoch eine Offenbarung: Gedichte von Hans-Curt Flemming. Nie gehört. Obwohl die Texte schon relativ alt sind, sind sie irgendwie zeitlos und immer noch aktuell. Es ist eine hohe Kunst in wenigen Sätzen etwas so prägnant auszudrücken. Ein Gedicht muss auch keinen Reim enthalten. Es verdichtet einen Moment, ein Erlebnis, ein Ereignis - Introspektive mit Aha-Effekt. Das muss man nicht mögen, aber man kann sich davon berühren lassen.

Der Gedichtband "Annäherung 2.0" von Hans-Curt Flemming ist am 14. Februar 2020 im Xenomoi-Verlag neu erschienen und auch bei Amazon erhältlich. Lesen Sie am besten die Produktbeschreibung und entscheiden Sie dann, ob das etwas für Sie sein könnte.

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Siehe auch: Buchgestöber, #Buchtipps, Ein Satz wie ein Gemälde, Memento Mori, Vom Aufblühen, Happy Börsday, Immanuel

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