Montag, 31. August 2020

Aus der Matrix gefallen

Die Welt wirkte in diesen Tagen seltsam und sonderbar, sie war voller skurriler Wunder. Horst Schablonski fragte sich, ob er womöglich vergessen hatte, ein wichtiges Update seiner Persönlichkeitssoftware zu installieren. Früher hatte er die Welt durch eine rosarote Brille gesehen, aber auf einmal sah alles absurd und irgendwie deplatziert aus. Selbst ein gewöhnlicher Laubbläser brachte Schablonski neuerdings zum Staunen. Alles war so vertraut, und doch so fremd! Er wählte die Nummer seines Therapeuten. Nach gefühlten Minuten meldete sich die altvertraute Stimme am anderen Ende der Leitung.
"Herr Schablonski, das ist aber schön. Wie geht es Ihnen?"
"Ich weiß nicht, Herr Morfmeus, irgendetwas stimmt nicht mit mir. Ich fühle mich wie dieser Catweazle aus dem Fernsehen. Kennen Sie den?"
"Oh ja, das ist dieser verrückte Zauberer aus dem Mittelalter, der versehentlich in die Moderne katapultiert wurde. Er erschrickt jedes Mal, wenn jemand einen Lichtschalter betätigt, nicht wahr? Er weiß eben nicht, wie sich die Welt verändert hat, und findet deshalb alles magisch - oder gespenstisch."
"Genau!" Schablonski atmete erleichtert auf. "Wissen Sie, heute früh wurde ich von einem Auto geblendet, das zwei große LEDs auf dem Dachgepäckträger montiert hatte, genau auf Augenhöhe. Beim Ausparken schalteten sich diese weißen LEDs beim Rückwärtsfahren und Rangieren immer wieder ein und aus, während ich die Straße entlang kam. Diese Strahler waren so hell, dass ich minutenlang nur noch flimmernde Lichter sah. Mit so einer Lichtorgel könnte man bei Neumond einen ganzen Wald in Sibirien ausleuchten!"

"Was war das denn für ein Wagen?", staunte der Therapeut.
"Ein SUV, ein Jeep, ein Cherokee... So groß wie ein Panzer", keuchte Schablonski. "Ich dachte der Fahrer bricht gerade in sein Jagdrevier auf. Platz genug für einen Hirsch und zwei Wildschweine wäre auf dem Dachgepäckträgerschon gewesen.  Aber der Mann trug einen ganz normalen Anzug. Das hat mich sehr verwirrt!"
Dr. Morfmeus Stimme war wohltuend und beruhigend, als er sagte: "Er fuhr vermutlich nur ins Büro...", doch das Gesagte stimmte nicht mit dem überein, was Schablonski  zu wissen meinte.
"Aber Herr Morfmeus, machen jetzt nicht alle dieses Homeoffice?"
Morfmeus holte tief Luft. "Vielleicht wollte er auch ins Autokino, Herr Schablonski. Da kann man jetzt sogar hin, wenn man gar kein Auto hat!"
"Ach wirklich? Aber ... warum?"
Schablonski hatte an diesem Morgen schon so viel erlebt, er wollte mehr erzählen, doch Dr. Morfmeus unterbrach ihn barsch.
"Herrr Schablonsskii! Haben Sie die Pille genommen, die ich Ihnen mitgegeben hatte?"
Schablonski zog die Packung aus der Jackentasche und schaute nach. Er war in letzter Zeit etwas vergesslich, darum wollte er sichergehen.
"Da waren zwei Pillen drin",  sagte Schablonski, als seine Erinnerung wiederkehrte. "Eine ist weg. "
"Welche haben Sie genommen? Etwa die rote?", erkundigte sich Dr. Morpheus nervös.
Schablonski nickte, obwohl Morpheus ihn gar nicht sehen konnte.
"Sie hatten bei unserer letzten Sitzung gesagt, dass ich mich entscheiden sollte. Darum habe ich die rote Pille genommen."
Schablonski hörte Morfmeus schwer schnaufen.
"Wenn Sie wollen, dass Ihnen die Welt nicht mehr seltsam vorkommt, dann nehmen Sie jetzt bitte SOFORT die blaue Pille. Schauen Sie außerdem jeden Tag alle Nachrichtensendungen und lesen Sie wieder Ihre Tageszeitung. Arbeiten Sie mindestens zehn Stunden am Tag und treffen Sie sich nicht mit ihren alten Freunden. Wir haben doch besprochen, dass die kein guter Umgang für Sie sind!"
Schablonski knisterte mit der Blisterpackung deutlich hörbar herum und sagte: "Gut, Herr Morfmeus. Wenn Sie das sagen, dann mache ich das. Ich glaube, es wird mir gleich viel besser gehen, wenn ich Ihren Rat befolge. Vielen Dank für Ihre Hilfe!"

Schablonski beendete das Telefonat und steckte die Pille zurück in die Jackentasche. Noch nicht, dachte er. Diese neuen Eindrücke waren alle viel zu interessant, und mit seiner Verwirrung würde er schon irgendwie klarkommen. Er schaute sich auf der Straße um. Der Laubbläser war weg. An der Hauswand vor ihm prangte ein großes Plakat.
Es hätte Schablonski nicht gewundert, wenn sich dahinter ein Portal in eine andere Dimension öffnen würde. Obwohl ihn der Versuch reizte, etwas völlig Absurdes zu tun, versuchte er nicht, am nahegelegenen Zigarettenautomaten Geld zu ziehen. Er spürte instinktiv, dass er sich durch sein Verhalten nicht auffällig machen sollte. Also marschierte er weiter zur Sparkasse. Als er dort eine halbvolle Packung Zigaretten fand, konnte er sich das Lachen kaum verkneifen. Diese neue Wirklichkeit fing an, ihm zu gefallen. Er überlegte, ob er zum Zigarettenautomaten zurückgehen sollte. Wahrscheinlich gab es dort Geld umsonst. Und dann würde er zur Plakatwand gehen.

Siehe auch: Ausgemustert, Doppelgängerin?, Fluchtgedanken, Ach..., Wo ist das Wurmloch?, Sachen gibt's, #skurril, #Matrix

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