Freitag, 26. Juli 2019

Man lernt nie aus

"Mädchen, du musst noch viel lernen!", sagte mal ein 23jähriger mit erhobenem Zeigefinger zu mir. Ich war gerade zwanzig geworden und ja, ich war ganz schön naiv. Das bin ich in manchen Dingen vielleicht heute noch, aber ich mache Fortschritte.

Das Interessante am Älterwerden ist, dass man immer wieder erkennt, welchem Irrglauben man in früheren Jahren erlegen ist. Es sind nicht immer Fehler, aber Fehleinschätzungen. Der Lernprozess setzt bei manchen Leuten gar nicht ein, bei anderen dauert er bis zum letzten Atemzug.

Mein Profilfoto mit Brille und erhobenem Zeigefinger ist eine Persiflage, aber auch eine Mahnung an mich selbst, nicht dauernd die Oberlehrerin herauszukehren. Ich bin mir dieser Schattenseite bewusst. Wenn es mir eines Tages gelingt, diesen Schatten zu überwinden, höre ich wahrscheinlich auf zu schreiben.


Die herrschende Lehrmeinung
Seit vielen Jahren verfolge ich mit Interesse Wissenschaftssendungen. Dabei wird offenkundig, was für einen Unsinn manche Lehrer während meiner Schulzeit verzapft haben. Im Biochemie-Leistungskurs erklärte unser Kursleiter, dass "wir" (Menschen) allein im Universum sind, und dass wir niemals andere Lebensformen im All entdecken würden, weil dort alles einfach nur lebensfeindlich sei. Das war die herrschende Lehrmeinung in den frühen 1980er Jahren. Unser Biochemielehrer lebt nicht mehr, sonst hätte er noch erfahren, dass Wissenschaftler jetzt viel weiter ins Weltall schauen können, und fast täglich neue Planeten entdecken, auf denen (uns bekanntes) Leben prinzipiell möglich ist.



In der Schule lernt man, dass man die herrschende Lehr(er)meinung besser nicht hinterfragt, und in den Prüfungen genau das aufs Papier schreibt, was man vorher im Unterricht notiert hat. Andernfalls kippt der Notendurchschnitt. Geglaubt habe ich viele dieser Erklärungen nicht. Man war schließlich auch einmal der festen Überzeugung, dass alle Planeten um die Erde kreisen. Es hat lange gedauert, bis die damals Mächtigen diese neue Weltsicht zulassen konnten. Wenn sich eine neue Art des Denkens durchsetzt, spricht man von einem Paradigmenwechsel.




Als die ersten Astronauten 1969 von ihrem Ausflug zurückkehrten, hieß es: Es gibt kein Wasser auf dem Mond. Gestern lese ich einen Artikel, dass es an den Polkappen unseres Erdtrabanten womöglich "Millionen von Tonnen gefrorenes Wassereis" gibt. Fünfzig Jahre Forschung liegen dazwischen. Können Menschen also wirklich eine Siedlung auf dem Mond oder dem Mars errichten? Hoffentlich werde ich alt genug, um das mitverfolgen zu können.
Alles ändert sich, und zwar ständig. Im Alltagsleben fällt uns das nicht so auf, aber nach zehn oder zwanzig Jahren kommt ein Moment, in dem man innehält und feststellt, dass "früher vieles anders war", und es war nicht immer alles gut.


Lebenslanges Lernen, oje?!
Man lernt nie aus, und es muss immer jemand kommen, der unbequeme Fragen stellt, nachforscht, und dann auch noch sein Wissen unter die Leute bringt. Unter den weiterführenden Links am Ende des Artikels finden Sie einige Beispiele: Mikroplastik im Kunstrasen, oder der falsche Hype um Leonardo da Vinci's Erfindungen. Wer hat schon die Zeit und das Interesse, sich in verschiedenen Bereichen ständig weiterzubilden? Ganz schlimm ist es bei politischen und weltanschaulichen Themen, die letztlich auch in den scheinbar neutralen Wissenschaftssektor hineinspielen.


Wissen ist Macht - nix wissen macht auch nix?

Wie froh wäre ich gewesen, wenn es zu meiner Schulzeit schon so etwas wie das Internet gegeben hätte. Wer Youtube nur als Kanal für Musik- und Katzenvideos kennt, sollte mal nach den Vorträgen von Uni-Professoren, Historikern und Wissenschaftlern suchen. Im Netz findet man alles: Kochkurse,  Tutorials fürs Webdesigner oder Reparaturanleitungen für Waschmaschinen und Computer. Ja, man kann dort sogar Mathe-Nachhilfe bekommen! Die Kunst besteht heute nicht mehr darin, Informationen zu finden, sondern die Spreu vom Weizen zu trennen, Stichwort #Fakenews. Man darf nicht alles glauben, was andere einem erzählen, aber wie bereitet man Kinder auf eine Welt mit so vielen und oft widersprüchlichen Informationen vor, wenn man sich selber schon nicht  mehr auskennt? Es hilft sicher nichts, in der Schule Wissen zu vermitteln, dessen Halbwertszeit immer kürzer wird. Spaß am schulischen Lernen hatte ich nur selten, aber ich konnte mir meine Neugierde bewahren.

"Esoterik" auf der Titelseite der Boulevardpresse?
Was geht denn hier ab? 😉
Erklären Sie Ihren Kindern, wie die WELT unveränderlich beschaffen ist, oder wecken Sie deren Forschergeist? BILD dir eine Meinung, schau in den SPIEGEL, richte deinen FOCUS auf das Wesentliche, sonst haue ich dir auf die TAtZen. Auf welche Informationen kann man sich verlassen? Selbst Wissenschaftsmeldungen und Studien werden gefälscht. Die Filterblase in den sozialen Medien sorgt dafür, dass wir nur das zu sehen bekommen, was wir ohnehin schon gut finden. Wer eine abweichende Meinung vertritt, wird gemobbt, oder ganz schnell in die Ecke der "Verschwörungstheoretiker" verbannt. Galileo Galilei war auch so einer. Er hat seine richtige Ansicht widerrufen, um nicht auf dem Scheiterhaufen zu enden.

Es fällt den meisten Leuten schwer, eine Meinung auszuhalten, die von der eigenen diametral abweicht. Kompromisse sind oft schwierig, manchmal unmöglich, aber wir müssen weiter miteinander reden. Das ist vermutlich das einzige, was uns langfristig weiter bringt.

Fridays for Future
Wenn ich mir die Freitagsdemonstationen der Jugendlichen anschaue, bin ich einerseits erfreut und andererseits skeptisch. Wir haben auch demonstriert, gegen Wackersdorf, den NATO-Doppelbeschluss und gegen das Waldsterben. Diverse Atomsprengköpfe wurden nie aus Deutschland abgezogen, aber Wackersdorf wurde nicht gebaut, und der Wald steht noch. Ob das auch so wäre, wenn unsere Generation überhaupt nichts getan hätte? Gäbe es heute die "Grünen" und vegane Jugendliche?
Schilder gegen den Klimawandel hochhalten ist ein guter Anfang, wird aber nicht reichen, wenn man sich vor Augen führt, wie komplex dieses ganze Thema ist. Die Jugendlichen sind gut informiert, aber auch hier besteht die Gefahr, dass es blinde Flecken gibt, und dass wir noch gar nicht alle Faktoren kennen oder berücksichtigen, die den zu beobachtenden Klimawandel beeinflusst haben.
Ob diese Jugendbewegung zur Grundlage einer echten Veränderung wird, werden wir erst in einigen Jahren beurteilen können. Wer redet heute noch von Occupy?


Es ist gut, dass sich etwas in den Köpfen bewegt. Informationen über Geoengineering, neuere Zeitgeschichte und Politik waren bis vor kurzem nicht so hitverdächtig wie Bibis Beauty Palace oder Sami Slimani. Dass ein Rezo mit blau gefärbten Haaren selbstgefälligen Politikern einen Stachel ins Sitzfleisch gejagt hat,  ist ein echtes Novum. Wie sich das langfristig entwickelt, bleibt abzuwarten.




Evolution statt Revolution
Eine schrittweise Entwicklung dauert lange. Wir hören seit vielen Jahren das Mantra, dass wir keine Zeit mehr haben und JETZT etwas tun müssen. Die herrschende Lehrmeinung ist stets eine Übereinkunft, die sich schon häufiger geändert hat. Man braucht viele Informationen aus verschiedenen und sicheren Quellen, erst dann kann man neue Informationen bewerten und einordnen. Das ist mühsam, es kostet Zeit und Energie und es kommen ständig neue Informationen dazu... Ich bin heute informierter als vor zehn Jahren, aber im Prinzip ähnlich ahnungslos. Der neueste Stand der Wissenschaft ist immer auch der neueste Stand des Nichtwissens. Wenn wir nicht wissen, wer Recht hat, würde ich einen Satz benutzen, den ich als Kind oft gehört habe: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Lieber in Sachen Umwelt aktiv werden, als die Hände in den Schoß legen. So hat gerade eine 15jährige Schülerin einen Filter für Waschmaschinen entwickelt, mit dem man Mikroplastik abfangen kann. 

Die Schule des Lebens
Von den vielen Dingen, die ich in der Schule lernen musste, habe ich nur wenige im späteren Leben dauerhaft anwenden können. Lesen, Schreiben, die Grundrechenarten und Sprachen sind wohl das wichtigste; Sport, Musik und Kunst schaden nie. Ethik und Psychologie haben in meiner Schulzeit den Religionsunterricht ersetzt. Wissensvermittlung funktioniert nur, wenn ein grundsätzliches Interesse an den Themen vorhanden ist. Darum sind Lehrer oder Menschen wichtig, denen es gelingt andere zum eigenständigen (lebenslangen) Lernen zu motivieren. Wer bei der Schulausbildung scheitert, ist nicht automatisch dumm. Er oder sie war vielleicht nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Es gibt den sogenannten zweiten Bildungsweg und die Möglichkeit als Quereinsteiger Karriere zu machen. Das Lernen geht nach dem Schulabschluss erst richtig los. Darum schreiben manche Leute in ihrem Facebook-Profil auch, dass sie die "Schule des Lebens" besucht haben. In dieser Schule ist jeder, der uns begegnet, gleichzeitig ein Schüler und eine Art Lehrmeister. Die Leute und die Situationen, über die wir uns ärgern, sind die besten Lehrmeister. Manche stacheln uns zu großen Taten an. Mögen die dahinterstehenden Werte und unser heutiges Wissen verhindern, dass wir Katastrophen früherer Generationen wiederholen. Wir  machen vielleicht nicht exakt dieselben Fehler. Woran könnten wir erkennen, dass wir andere machen - und welchen Informationen können wir vertrauen? Lernen wir weiter...
 

Buchtipp: Titus Dittmann - Lernen muss nicht scheiße sein  auf Buecher.de oder bei Amazon.

Weiterführende Links
Wikipedia: Persiflage
3sat nano: Goldene Zeiten für Planetenjäger
3sat Scobel: Aufbruch ins All
Wikipedia: Hubble Weltraumteleskop
Wikipedia: Galileo Galilei
Wikipedia: Fridays for Future
Wikipedia: Occupy Bewegung
Wikipedia: Geoengineering
Bibis Beauty Palace auf Youtube: Kik oder Louis Vuitton? (2,8 Mio Aufrufe, Juli 2019)
Rezo auf Youtube: Die Zerstörung der CDU (15 Mio Aufrufe, Juli 2019)
Grenzwissenschaften: Wasser auf dem Mond?
Trends der Zukunft: 15jährige erfindet Mikroplastikfilter
BR/quer bei Youtube: Mikroplastik auf Kunstrasenplätzen
Zeit: Leonardo da Vinci - Das überforderte Genie

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