#Winter #Regen
"Was gibt es denn da zu sehen?", fragte die Frau, die mir auf dem Weg an der Kleingartensiedlung entgegen kam. Ich war in der Trübnis des grauen Wintermorgens am Zaun stehen geblieben, um die glitzernden Regentropfen dahinter zu fotografieren. Dazu hatte ich extra meine große Kamera aus dem Rucksack geholt, und mächtig an den Einstellungsrädchen und am Zoomobjektiv herumgeschraubt. Ich war mehrmals hin und her gewankt, einen Schritt vor, zwei zurück, und wieder einen zur Seite, um eine möglichst ideale Perspektive und den perfekten Blickfang zu finden. Trotz aller Bemühungen wollte mein Motiv nicht so recht funktionieren. Zu allem Überfluss fing es gerade wieder an zu regnen. Meine Kamera war bereits bedenklich nassgetropft, und jetzt war ich auch noch spät dran. Ich wollte gehen, aber nun stand diese Frage am Zaun.
Die Frau, die mich angesprochen hatte, musste mich schon eine ganze Weile beobachtet haben. Sie führte eine Menge Gartenzeugs mit sich, also gehörte sie wohl zu den Kleingärtnern. Vielleicht hatte ich ausgerechnet in ihrem Garten über den Zaun gelinst, und womöglich hielt sie mich für eine Spionin, die Gartenhäuser für den nächsten nächtlichen Raubzug auskundschaftet. Vielleicht war sie auch einfach nur interessiert, oder neugierig, warum ich da im Winterregen so merkwürdige Bewegungen vollführte.
"Wassertropfen, die wie Diamanten aussehen", sagte ich, denn genau das hatte ich gesehen.
Mit so einer Antwort hatte die Frau offenbar nicht gerechnet.
"Ach", sagte sie, "wirklich? So etwas sehen Sie?" Sie schaute unbläubig auf meine Kamera.
Bokeh, dachte ich. Blendenwirkung. Unschärfe. Lichtkreise... aber das wäre keine zielgruppengerechte Antwort gewesen. Also erklärte ich, dass ich schon sehr lange fotografiere. Ich musste nachrechnen: "Seit ungefähr vierzig Jahren."
Die Frau verstand, was ich meinte. ""Ah ja, da kriegt man einen anderen Blick." Sie schaute die Wassertropfen an. "Fotografieren Sie nur Naturmotive?"
"Nein, ich fotografiere so ziemlich alles", antwortete ich. Vor meinem inneren Auge zogen innerhalb weniger Millisekunden vierzig Jahre Fotografie an mir vorbei. Menschen, Tiere, Landschaften, Architektur, Details... Reisen in ferne Länder, Fotomodelle im Studiolicht, Bücher... Ich dachte immer, dass man solche Flashbacks hat, wenn man stirbt, aber anscheinend reicht es, wenn man beim inneren Dialog mit diamantenen Wassertropfen unerwartet von einer Frage unterbrochen wird.
Normalerweise kommt an dieser Stelle des Gesprächs sehr schnell die Frage, ob ich das mit dem Fotografieren beruflich mache, darum fügte ich eilig hinzu: "Fotografieren ist ein tolles Hobby."
"Ich gehe bald in Rente", erzählte die Frau, "und ich habe mir schon überlegt, ob ich dann auch damit anfangen sollte."
"Ja, machen Sie das", bekräftigte ich. "Es macht wirklich Spaß."
Sie war erleichtert, dass ich weder verrückt, noch eine Spionin war, und dass mich am Garten nur die Wassertropfen interessierten. Wir nickten uns freundlich zu, und machten uns in entgegengesetzten Richtungen auf den Weg. Ich hätte ihr meine Visitenkarte geben können, falls sie sich tatsächlich für dieses neue Hobby entscheidet. Vielleicht hätte sie eines meiner Bücher brauchen können, aber ich ließ es bleiben. Kein Selbstmarketing am Gartenzaun im strömenden Regen. Mein altes Leben war vorbei, und das neue hatte einen anderen Schwerpunkt. Wahrscheinlich war das der Grund für meinen Flashback: Die Fotonanny wollte sich mit einer Millisekunden-Zeitreise bemerkbar machen, und stampfte wütend mit dem Fuß, wie Rumpelstilzchen. "Du kannst das doch nicht alles hinter dir lassen!"
Wir werden sehen, dachte ich, und: So ist das wohl, wenn sich das alte Ego nochmal aufbäumt. Widerstand ist zwecklos. Alea iacta est.
#Supermemory #Loslassen
Siehe auch: Die Größe ist entscheidend, Weather with you?, Unsichtbar!?, Es steht ein Schild im Nirgendwo, Cat-o-Shooting, Splash!, Wie in den Tropen, Wetterleuchten, Farbenrausch, Formalismus, Es ist (noch) nicht vorbei
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