Samstag, 1. Februar 2025

Magisches Brot

27 mm | 1/35 s | f1,6 | ISO 400 | Smartphone

 #Foodporn oder #Wortklauberei
 #Muttergeschichten  #Pflegeheim

Das Essen von Schrift ist ein alter magischer Brauch, so steht es wohl im "Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens" von Bächtold-Stäubli. Wie genau die Buchstabenmagie funktioniert, weiß ich leider (noch?) nicht. Essbare Schriftzeichen wurden bis ins 19. Jahrhundert auch als didaktisches Hilfsmittel genutzt, und es heißt, dass der irische Heilige Columban (~521 - 527) das Lesen angeblich beim Verzehr eines Alphabetkuchens lernte. Mir gefällt das. Man kann ja auch ganze Bücher verschlingen, das nennt man dann Bibliophagie.😁

Essen Sie diese Buchstabenkekse sofort, oder verspüren auch Sie den unwiderstehlichen Drang, vorher Namen oder Wörter daraus zu formen? 😀 Ich kann das einfach nicht lassen, egal wie hungrig ich bin. Gestern war ich mächtig hungrig, als ich meine Mutter nachmittags besuchte, aber sie schlief gerade. Nach der ersten Krankengymnastik mit ihrer altbewährten Therapeutin war sie völlig erschöpft. Trotz meiner Bemühungen wenig Lärm zu machen, raschelte die Kekstüte etwas zu laut, dadurch wachte die Mutter wieder auf.

"Hast du noch etwas von diesem Brot aus Russland?", fragte sie, was ich nur bejahen konnte, denn ich wollte mir gerade selbst ein paar Buchstaben stibitzen. Russisch Brot ist momentan so ziemlich das einzige, was die Mutter gerne isst. Ihr (leckerer) Nachmittagskuchen stand noch auf dem Beistelltisch, und ich war dankbar, dass sie ihn verschmähte. Den lauwarmen Kaffee, der noch unberührt daneben stand, habe ich mir auch reingezogen, während sie sich ebenso heißhungrig über die magischen Buchstaben hermachte. 😋

Die Physiotherapeutin hatte ihr warme Socken mitgebracht, ein handgestricktes Geschenk aus dem Heimatland, und wohl auch gefragt, wo der Wein geblieben sei, den die Mutter sonst so gerne trinkt. Das Gespräch mit Arzt und Pflegekräften hinsichtlich dieser langjährig-traditionellen Ernährungsgewohnheit muss ich noch führen. Zur Ablenkung habe ich erneut die elend lange und schlecht sortierte Senderliste des TV-Geräts durchgezappt, und siehe da: Deluxe Music erschien auf dem Bildschirm! Ich war selbst überrascht und genauso erfreut wie die Mutter. Die Zimmernachbarin war gerade nicht da, also drehte ich den Ton vorübergehend lauter. Es war leider nicht Schlager Deluxe, der wahre Favoritensender, aber wenn es den einen Deluxe gibt, muss der andere auch irgendwo sein.
Über 500 TV und Radioprogramme stehen in dieser Einrichtung zur Auswahl - wenn man weiß, wo und wie man sie findet. Notiere: Haustechniker vor Ort nach einem neuen Sendersuchlauf fragen... Über Internetz wäre der Empfang auf einem eigenen Gerät kein Problem, denn WLAN ist im ganzen Haus frei verfügbar. So ein Gerät muss man halten und bedienen können... Mal sehen.

Meine Bemühungen Schlager Deluxe am TV doch noch zu finden, wurden jäh unterbrochen, als ein Pfleger den Raum betrat. Er sah mich mit der Fernbedienung hantieren, und schaute ziemlich verdutzt, als ich fragte, ob denn wohl Sky Sport mit Bundesliga oder Champions League Übertragungen verfügbar seien. Es kam mir so vor, als wäre er tief beeindruckt, dass meine Mutter das sehen will.
Gelistet sind die Sky-Kanäle alle, abonnieren und freischalten muss man sie gegebenenfalls selbst. Sport und modernere Musik werden in Pflegeheimen wohl noch nicht so intensiv nachgefragt, aber das ändert sich gerade. Ich habe bereits eine Vision, in der ich meine Mutter im Gemeinschaftsraum sitzen und Fußballübertragungen live kommentieren sehe. Fehlen nur noch das Ok fürs Bier und Salzletten zum Public Viewing. 😅

Bisher hatte meine Mutter ihr Abendessen am Bett serviert bekommen, neuerdings muss sie in den Rollstuhl umsteigen und wird in den Essraum gefahren. Im Sitzen isst und trinkt es sich eindeutig leichter, die Motorik wird dadurch auch besser, es geht also voran. Wenn die Mutter jetzt noch ein bis zwei Gleichgesinnte findet, mischt sie den ganzen Laden auf. Kommunikativ ist sie ja, und womöglich gründet sie noch eine Schlagerfan-Gruppe. 😎📣

Mit dem "Brot aus Russland" lag meine Mutter übrigens gar nicht falsch:

Russisch Brot stammt vermutlich aus Sankt Petersburg, wo es als Bukwy (Буквы, dt.: „Buchstaben“) bekannt war. Der Bäcker Ferdinand Friedrich Wilhelm Hanke (1816–1880) aus Dresden hatte das Rezept dort während seiner Lehrjahre kennengelernt und brachte es um 1844 mit.  (Wikipedia)
Vielen Dank dafür. 🙏 Beim nächsten Besuch bringe ich Nachschub mit, denn als ich ging, war die Tüte leer.

Siehe auch: Blöde Frage, Es wird eng, #Foodporn, #Wortklauberei

Weiterführende Links

Keine Kommentare: