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27 mm | 1/30 s | f1,6 | ISO 400 | Smartphone |
#Kugelschreiber #orange
#Muttergeschichten #Pflegeheim
"Ich habe nicht mal einen Stift!", krähte meine Mutter mit einem Ausdruck von Verzweiflung, als ich ihre Mitbewohnerin fragte, ob ich mir deren Kugelschreiber für einen Moment ausleihen könnte. Der Stift lag zufällig in meinem Sichtfeld, und ich hatte selber gerade keinen zur Hand. Es war Sonntag, der ausgedruckte Speiseplan für die kommenden zwei Wochen lag auf dem Nachttisch, und die Küchenplanung erwartete eine Menüwahl.
Wer kein Kreuzchen auf den Zettel macht, kriegt irgendwas serviert. Dann ärgert man sich, dass die Tischnachbarin Milchreis mit Zimt bekommt, während man selber den Heringssalat beleidigt zurückgehen lässt. Diese Form von Schicksal lässt sich abwenden, also wollte ich mit meiner Mutter gemeinsam den Speiseplan durchgehen.
Zum ersten Mal hatte ich meinen gut sortierten Bürorucksack - ausnahmsweise - nicht dabei, stattdessen 'nur' eine große Tasche mit verschiedenen Decken ins Heim gebracht. Dort gibt es natürlich jede Menge Extradecken, aber die in den eigenen, selbstgewählten Farben vermitteln wenigstens einen Hauch von "wie zuhause". Im Pflegeheim ist es wunderbar warm, um nicht zu sagen überheizt, aber trotzdem friert die Mutter des Nachts: Ihre Mitbewohnerin will und kann nur bei gekipptem Fenster schlafen...
So eine Pflegestation ist eine zusammengewürfelte und ziemlich große Wohngemeinschaft höchst unterschiedlicher Menschen. Verschiedene Bedürfnisse, verschiedene Interessen, Vorlieben und Abneigungen prallen aufeinander. Dreimal am Tag ist Raubtierfütterung, Kaffee und Kuchen gibt's aufs Zimmer. 😅
Reisearrangements sind zeitlich begrenzt, man kann sich aus dem Weg gehen, und für eine oder zwei Wochen hält man das notfalls aus. Dazu gibt es die Besichtigungsprogramme und andere Ausweichmöglichkeiten. Je mehr Zeit man miteinander verbringt, desto besser lernt man sich kennen, vielleicht auch schätzen, oder auch nicht. Als erstes fallen einem die Marotten anderer Menschen auf. 😒
Sogar eine selbstgewählte Paarbeziehung birgt Risiken: Auf einmal ist jemand in der Bude, der die smaragdgrünen Handtücher gegen rote austauscht, die Gewürze und Pfannen in der Küche neu sortiert, und am Fernseher die Senderliste umorganisiert. Das kann schnell übergriffig werden und zu Irritationen führen. Wer gibt den Ton an, wie findet man Kompromisse, wie steht es um die Konfliktfähigkeit? So manche heiße Liebe kühlt ab, wenn man nicht nur das Bett, sondern auch den Tisch, die Küche und das Bad miteinander teilt. 😅
Meine Mutter hatte über zehn Jahre lang als Witwe allein gelebt. Bis zu ihrem Schlaganfall war ihr reduziertes Lebensumfeld zuhause unter ihrer alleinigen Kontrolle, und da ließ sie sich nicht dreinreden. Ich war nur tage- oder stundenweise bei ihr, und wenn es mir zuviel wurde, konnte ich die Tür meines Bürozimmers jederzeit schließen oder raus- und in mein eigenes Zuhause gehen. Jeder behielt seine Privatsphäre. Familie ist auch nochmal was anderes, als wenn man das private Umfeld auf einmal mit 'wildfremden Menschen' teilen muss.
Zurückstecken müssen
Schon den Pflegedienst-Einsatz fand meine Mutter gewöhnungsbedürftig. Sie fühlte sich überwacht und kontrolliert, obwohl die Einsatzzeiten zeitlich eng begrenzt und überschaubar waren. Jetzt herrscht 24-Stunden-Überwachung im Doppelzimmer, alle naselang läuft jemand rein oder raus. Pflegekräfte, Mitbewohnerin, Besuch, Putzkolonne; vor der Tür klappert das Küchengeschirr, oder es sind Stimmen zu hören. Die Friedhofsruhe, die meine Mutter zuhause an Weihnachten noch beklagt hatte, hat sich ins komplette Gegenteil verkehrt: Bei den "Halbtoten" geht es ziemlich lebendig zu, es menschelt, und jetzt ist die Mutter erst mal gestresst.
Fernsehprogramm, das sie sich nicht ausgesucht hat, geht ihr auf die Nerven. "Wie kann man nur den ganzen Tag fernsehen?", hat sie mich gefragt. Mir wäre fast die Kinnlade runtergefallen.
Somit erlebt sie gerade eine ähnliche Situation wie die, die ich mit ihr in den letzten vier Jahren durchgemacht habe: "Schau doch, schau doch - das musst du sehen!" - Nein, wirklich nicht. Eine Zeitlang kann man höflich bleiben, aber: "Wenn das nicht aufhört, dann werde ich aggressiv!", erklärte meine Mutter gereizt. 😡
Diese Umkehrung der Verhältnisse könnte ich nun als Retourkutsche sehen, im Sinne von "Das Karma schlägt zurück", und Genugtuung dabei empfinden, aber dieses Gefühl stellt sich nicht ein. Ich kann sehr gut nachempfinden, dass diese Situation schrecklich für meine Mutter ist, aber bei allem Mitgefühl und bei allem Respekt: Wir leben nicht in einer perfekten Welt, in der all unsere Wünsche und Bedürfnisse jederzeit erfüllt werden können. Der Verlust von Autonomie ist bitter, aber leider unausweichlich, wenn man alt, und vor allem wenn man krank, kraftlos und körperlich stark eingeschränkt ist. Das alles mit weitgehend wachem Geist miterleben zu müssen, ist besonders hart.
Meine Mutter wird nicht müde zu betonen, dass sie gar nicht mehr schreiben kann. Trotzdem bringe ich ihr das nächste Mal einen eigenen Stift mit. Dann hat sie es selber in der Hand, ob Sie ihre Kreuzchen auf dem Briefwahlzettel und dem Speiseplan selber macht, oder mir wieder alles hinschiebt.
"Das ist mir zu kompliziert", hatte sie angesichts der vielen Menü-Optionen leichthin erklärt - sie hatte einfach keine Lust, sich anzustrengen. Darum habe ich kurzerhand Weisswürste, Nudelgerichte und Kaiserschmarrn angekreuzt, das erspart mir spätere Beschwerden über die verhassten Fisch- und Gemüsegerichte mit zerkochtem Brokkoli. Ganz zu schweigen von den veganen Optionen, die es ebenfalls gibt! Wenn's trotzdem nicht schmeckt, kann sie die Schuld auf mich schieben, oder einfach mit der K.O.-Keule kommen: Das Essen im Heim ist sowieso grundsätzlich gräßlich. Bis auf den Kaffee, die Linsen und die Gulaschsuppe? 😏
"Wen wählst du?", hatte meine Mutter ihre Mitbewohnerin noch gefragt, so in Sachen freie und geheime Wahlen. 😆 "Wir sind in Bayern", lautete die Antwort, und Sie wissen: da kann es nur den Einen geben. Ob der Herr Söder jetzt im Münchenstift mal zum Besuch vorbeikommt?, schwebte als weitere Frage im Raum. Eigentlich müsste er, denn dort sitzt seine unangefochtene Stammwählerschaft. 😅 Somit hat sich auch die Frage geklärt, wieso der Briefkasten am Münchner Ostfriedhof bei der letzten Wahl so vollgestopft war.
Siehe auch: Briefwahl, Hoppala..., Konfliktscheu, Sind Sie alt?, Schwammerlsarg, Kostenlos!, Die Wahl der Qual, Wahllos, Memento Mori, Bergpredigt, Magisches Brot, Gorillakäse fürs Forsa-Institut, Panaudium, Feste feiern, Es Muttert, Warum klebt der Käse an der Wurst?, Vegan?, Frieren Sie?
Reise: Schnelles Internetz im Jahr 2000, P(l)ackerei
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