Dienstag, 20. August 2019

Tanz mit der Vergänglichkeit



Waren Sie zwischen 2012 und 2018 einmal bei mir im Büro in München #Giesing? Dann erinnern Sie sich vielleicht noch daran, wie das Gebäude von außen aussah. Es handelt sich um ein ehemaliges Umspannwerk der Stadtwerke München, deshalb gibt es in der ersten und zweiten Etage keine Fenster. Die Büros liegen im dritten und vierten Stockwerk, die als "erste und zweite Büroetage" bezeichnet werden. Für mich war dieser Ort immer ein inspirierender Kreativraum, dort sind viele meiner Bücher entstanden, und ich hatte genug Platz für mein Studio-Equipment. Aus familiären Gründen und sehr schweren Herzens habe ich mein heißgeliebtes Büro Mitte 2018 gegen das Homeoffice getauscht, somit ist meine Zeit in diesem Gebäude zu Ende. Weil ich gleich um die Ecke wohne, komme ich aber sehr oft an dieser Stelle vorbei.



Dass das Gebäude von außen einen etwas tristen Eindruck gemacht hat, fand ich immer sehr schade, denn innen ist es modern und durchaus schick.
Ab Oktober 2018 hat ein Graffiti-Künstler das vollbracht, was ich mir immer gewünscht hatte: Eine neue Fassadengestaltung. Mittlerweile sieht das Gebäude so aus...



Unter den weiterführenden Links finden Sie Hintergrundinformationen zum Künstler
Markus Müller alias WonABC

Die Presse war begeistert, und bezeichnete das Werk zu Recht als "neues Highlight in München Giesing". Vielleicht rätseln Sie gerade, was der Diesel kostet? Ich verrate es Ihnen: Im März 2012 waren es 1,48(9), Mitte August 2019 lag der Preis bei 1,20(9) EUR. Von wegen alles wird immer schlechter!  😉 Die Tankstelle ist kein Hingucker, aber ich sage Ihnen: Die Butterbrezen und der Kaffee sind wunderbar. Meine Latte Macchiato hat man mir auch in den mitgebrachten Porzellanbecher abgefüllt.


Klick aufs Bild für größere Ansicht

Gehen Sie von hier aus etwa 200 Meter geradeaus Richtung Kirchturm, und Sie sind beim Giesinger Bräu. Die "Kultbrauerei", die 2006 in einer Hinterhofgarage ihren Anfang nahm, war die erste Brauerei-Neugründung in München seit den 1930er Jahren. Ein paar Dinge werden durch Baustellenprojekte wirklich schöner und besser.

Jetzt ist die nächste Baustelle in Sicht
Im Viertel spricht es sich gerade herum: Es ist eine von diesen kleineren Baulücken, die mir momentan etwas Herzschmerz bereitet. Schräg gegenüber meines alten Büros gibt es ein paar kleine Läden auf einem Eckgrundstück. Die Gebäude aus den 1960er Jahren sind marode, und ja, es war noch nie eine gute Lage für Geschäfte mit Laufkundschaft. Es ist eben so eine Ecke, die man viel wirtschaftlicher nutzen kann, wenn man dort etwas anderes hinstellt.

Die Ladenzeile links soll bald verschwinden...


Können Sie sich vorstellen, dass genau hier auf dieser Sichtachse einstmals Bauernhöfe standen? Ich kann das auch nicht, aber bei Interesse finden Sie im PDF-Booklet KulturGeschichtsPfad 17 eine historische Aufnahme, die das Vorher-Nachher von oben zeigt (siehe weiterführende Links).
1934 kaufte die Stadt München den "Zehentbauernhof", und ließ ihn zur Erweiterung der Martin-Luther-Straße abreißen. Damals entstand eine brachiale Schneise durchs malerische Bauernhofidyll. Das dürfte einigen Leuten überhaupt nicht gefallen haben, aber der Fortschritt hatte immer schon seinen Preis. Auf den Resten dieses Grundstücks befindet sich heute ein kleiner Biergarten am hinteren Ende des "Grünspitz". Aus der Kastanien-Klause ist unlängst der Kastaniengarten geworden.

2012 - Die Kastanien-Klause in Rot


Pächterwechsel, neues Design 2019:
Der Kastaniengarten im Löwen-Design

Im folgenden Foto sehen Sie in der Mitte einen "unaufgeräumten Haufen". In meinem Fotonanny-Blog hatte ich neulich geschrieben, dass mich Baustellenprojekte derzeit nicht mehr so interessieren, aber wenn ein scheinbar unveränderlicher Anblick im Begriff ist zu verschwinden, greife ich doch wieder zur Kamera. Ohne Bilder verblassen die Erinnerungen viel zu schnell.

Ein Stück "altes Giesing", wie ich es seit Jahrzehnten kenne.

Bis zum Abriss dieses Ensembles gibt es nun sogenannte "Popup-Stores". Darunter versteht man kurzfristige und provisorische Einzelhandelsgeschäfte, die vorübergehend in leerstehenden Geschäftsräumen betrieben werden.


Am Sonntagmorgen ist die vierspurige Martin-Luther-Straße wie ausgestorben. Wochentags kann man hier keine Fotos ohne Autos machen. An der Ampel mit Drück-Knopf steht man ewig herum und hat deshalb auch immer ausreichend Gelegenheit, sich die Gebäude und die Fassadenwerbung ausgiebig anzuschauen.
Die obere Etage des flachen Vorbaus war vor ein paar Jahren noch rot gestrichen, und im Laden rechts unten gab es bis ca. 2012/13 einen Erotikladen mit schwarz verklebten Scheiben. Als der verschwunden ist, habe ich nicht gejammert. In einer ehemaligen Videothek auf der Tegernseer Landstraße (TeLa) befindet sich heute ein Yoga-Studio. Manche Dinge braucht man eben nicht mehr, und die entstandenen Lücken füllen sich mit neuen Trends.

Die Lutherkirche (links) wird auch gerade renoviert,
der Bauzaun befindet sich hinter dem Turm.


Zeitreise: Setzen Sie Ihre eigenen Erinnerungspunkte?
Manchmal wünschte  ich, dass es eine Zeitmaschine gäbe, mit der man im Zeitraffertempo eine visuelle Reise durch die Jahrhunderte antreten könnte. So unrealistisch ist diese Vorstellung nicht.
Heutzutage könnte man eine solche Animation digital erstellen. Das einzige, was man dazu bräuchte, ist ausreichend Bildmaterial, das man über einen (sehr) langen Zeitraum sammeln müsste. Ausgestattet mit einer 3D-Brille könnte man den virtuellen Vergangenheitsraum dann sogar durchschreiten. Bei einer solchen Zeitreise würde man besser verstehen, welche dramatischen Veränderungen sich im Lauf von fünfzig, hundert oder zweihundert Jahren bereits vollzogen haben, und dass es ganz normal ist, wenn Dinge verschwinden und erneuert werden.

Google Streetview ist umstritten, aber wenn es das Projekt lange genug gibt, wird es eines Tages zu einer wertvollen historischen Fundgrube. Auch viele dokumentarische Amateurfotos aus den letzten Jahrzehnten sind heute schon ein Schatz. Man kann nicht alle Gebäude unter Denkmalschutz stellen, darum wird sich vor unseren Augen alles ständig weiter verändern. 

2012 war hier noch der hässliche Automarkt...

Heute ist der Grünspitz eine "alternative" Oase im Viertel.
Schauen wir mal, wie es nach der "Zwischennutzung" weitergeht.
 
 
Weiterführende Links:
  • Gigantisches Löwen-Graffiti: Das steckt dahinter (AZ München)
  • Münchens größtes Graffiti gibt's in Giesing (Mucbook)
  • Berichterstattung über die Hintergründe der Graffiti-Motive (Wochenanzeiger)
  • Markus Müller (WON ABC) - Wikipedia
  • Giesinger Bräu - Homepage
  • Durchaus realistisch: Kultbrauerei will auf die Wiesn (TZ München
  • KulturGeschichtsPfad 17 - Historische Aufnahme Seite 25 (PDF von muenchen.de
  • GIESING - Reiseführer für Münchner von Martin Arz (Amazon)
  • Grünspitz (GreenCity e.V.)
  • Meine Bücher, die seit 2012 in Giesing entstanden sind (Amazon)

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