Samstag, 19. August 2023

Kleinod

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#Feldmüllersiedlung  #Obergiesing  #München

Kleinod ist ein altes deutsches Wort für ein Schmuckstück. Heute wird es überwiegend im übertragenen Sinne für eine (nicht nur gegenständliche) Kostbarkeit benutzt. (Wikipedia)

Die Feldmüllersiedlung, ein Wohngebiet im Münchner Stadtteil Obergiesing, ist so ein Kleinod. Die Häuser wurden in der Zeit zwischen 1830 und 1860 errichtet, und wirken wie aus der Zeit gefallen. Dass ein ganzes Ensemble von heutzutage niedlich anmutenden Kleinhäusern immer noch steht, und dem Stadtteil eine ganz besondere Atmosphäre verleiht, verdanken wir dem Denkmalschutz. Im Jahr 2017 sorgte der illegale Abriss des Uhrmacherhäusls in der Oberen Grasstraße für Empörung im Viertel, und die mediale Resonanz war groß. Sechs Jahre später klafft schräg gegenüber dieser schmucken Fassade immer noch eine hässliche Baulücke.

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Im Juli 2022 wurde der Eigentümer in einem "wegweisenden Urteil" wegen gemeinschädlicher Sachbeschädigung und Nötigung zu einer Geldstrafe von 132.500 Euro verurteilt. Klingt viel, ist wenig. Der Bauunternehmer, der mit dem Bagger angerückt war, kam mit 4.400 EUR Strafe davon, hat Konkurs angemeldet und verschwand in seine Heimat. Das Uhrmacherhäusl soll nun in seiner ursprünglichen Form wieder aufgebaut werden, zumindest was die Außenansicht betrifft. Bis das neue Gebäude steht, können noch ein paar weitere Jahre ins Land ziehen. Dass so ein Urteil überhaupt möglich war, liegt vielleicht daran, dass "die Feldmüllersiedlung laut Bayerischem Landesamt für Denkmalpflege deutschlandweit eine Besonderheit" darstellt. Anderswo in der Stadt nimmt man es nicht so genau. Der Bürgerprotest und die mediale Aufmerksamkeit haben in diesem Fall sicher geholfen, aber die kritischen Worte eines Bloggers aus dem Viertel (Wortvogel) bringen es auf den Punkt: Requiem des Widerstands.

Vorzeige-Viertel
Vor nunmehr vierzig Jahren - 1983 - wurde die Münchner Gesellschaft für Stadterneuerung (MGS) vom Stadtrat mit der Sanierung der bereits damals denkmalgeschützten Feldmüllersiedlung beauftragt, und selbige ein Jahr später zum Sanierungsgebiet erklärt. Im Zuge des „Herbergenprogramms“ wurde das Vorhaben von der Stadt mit 2,5 Millionen Euro gefördert. Der Betrag klingt lächerlich, dafür kriegt man hier heutzutage, wenn's gut läuft, zwei schicke Neubau-Dachterrassenwohnungen mit Tiefgaragen-Stellplatz. Damals waren die 5 Millionen Mark ein ordentlicher Batzen Geld.

Über die Namensgeberin Therese Feldmüller erfährt man bei Wikipedia und München-Wiki herzlich wenig, außer dass die Wirtstochter von 1840 bis 1846 im damals noch bäuerlichen Giesing lebte. Sie verkaufte ihren Grund Stück für Stück an Handwerker, zuziehende Tagelöhner und Kleingewerbetreibende. Ihr Grundstück lag jenseits des Obergiesinger Ortskerns, und wahrscheinlich hat sich Frau Feldmüller bei ihren Nachbarn damals nicht besonders beliebt gemacht. Heute können wir ihr dankbar sein, dass in Obergiesing nicht noch mehr hässliche Neubauten stehen. Sie hatte sich das Areal aus ihrem ererbten Vermögen gekauft, und durch den parzellenweisen Weiterverkauf ihren Lebensunterhalt finanziert.

Die neu Zugezogenen errichteten auf den Parzellen schlichte, einstöckige Häuser dicht nebeneinander – teils mit Gewerbe im Hinterhof, teils mit kleinen Gärten. Damit bildete die Feldmüllersiedlung schon damals einen deutlichen Kontrast zu den bäuerlichen Gebäuden des alten Ortskerns in der unmittelbaren Nähe. Frau Feldmüller hatte hier sozusagen die erste Welle der Gentrifizierung ausgelöst, knapp zweihundert Jahre, bevor dieser neuzeitliche Begriff erfunden wurde.

Die Schrifstellerin, Autorin und Künstlerin Sela Miller, auf deren wunderbaren Blog ich heute während meiner Recherche gestoßen bin, hat mehr über das Leben der Therese Feldmüller herausgefunden: „Man sagt ihr ein wechselhaftes Leben nach“. Mehr verrate ich nicht. Sela Miller schreibt poetische Texte, und wird auf ihren Streifzügen durch die Stadt vom Fotografen Franz Kimmel begleitet. Stöbern Sie gerne dort weiter, es lohnt sich. 

Eine andere wichtige Frau für Giesing war Paula Herzog > Nanu?

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