Samstag, 24. Juni 2023

Raumgreifend

 

#Cincinnati-Kino  #Baudenkmal  #AmerikanischeSiedlung  #München

Die "Amerikanische Siedlung" wird unter Einheimischen immer noch so, oder verkürzt "Ami-Siedlung" genannt, obwohl sie mittlerweile offiziell Siedlung am Perlacher Forst heißt. Sie wurde ab 1953 auf einer eigens dafür abgeholzten Waldfläche des Perlacher Forstes errichtet, um den Wohnraumbedarf der amerikanischen Besatzungssoldaten zu decken. Durch die vielen Grünflächen und eine (ungewohnt) lockere Bebauung hat diese Siedlung als Ganzes eine besondere städtebauliche Bedeutung. (Wikipedia1)

Nach dem Mauerfall und Auflösung der nahegelegenen McGraw-Kaserne sind die Amerikaner ausgezogen, danach hat man die Siedlung jahrelang baulich eingedeutscht. Übrig geblieben ist das ehemalige U.S. Family Theater, das heutige Filmtheater Cincinnati. Es steht inzwischen unter Denkmalschutz, und wird nach massiven Protesten der Anwohner auch weiterhin als Kino betrieben.  

Darüber bin ich einerseits froh, weil es die erste Adresse für unsere (seltenen) Kinobesuche ist, andererseits kann man einen so großen Saal heute nicht mehr füllen, nicht mal mit Blockbustern wie Avatar. Ob zusätzliche Einnahmen aus Privatveranstaltungen, Events oder Schulvorführungen für einen wirtschaftlichen Betrieb ausreichen, ist speziell nach Corona fraglich.
Denkmalschutz ist generell nicht wirtschaftlich, oft unökologisch, und in diesem Fall auch totale Platzverschwendung. Zudem will "die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben die Restflächen möglichst gewinnbringend verwerten."

Dieses ausladende Gebäude kenne ich noch aus meiner Ausbildungszeit zur Übersetzerin und Dolmetscherin. Damals fungierte der große Saal auch als Theater für englischsprachige Bühnenaufführungen, und eine Wiederbelebung als Kulturzentrum hätte meines Erachtens Charme.
Die leere weite Fläche im Bildvordergrund war früher der Parkplatz. Für Kinobesucher gibt es weiterhin welche auf der anderen Seite, wo sich auch der Eingang befindet.
Die versiegelte Fläche dient momentan dem einmal wöchentlich stattfindenden Wochenmarkt, und ist ansonsten für Skateboarder reserviert, ohne dass man die für diesen Sport erforderlichen Hindernisse (Obstacles) mit dazu gestellt hätte. Skateboards machen ja auch Lärm, und wenn Ballspiele explizit verboten sind, wären rollende Bretter auf Asphalt natürlich auch blöd für die Anwohner. Also blickt man auf ein Areal der Trostlosigkeit, das in der Sommersonnenhitze glüht, wie ein Backofen. Da könnte man schon auf den Gedanken kommen, dass Denkmalschutz bescheuert ist.

Baulich eingedeutscht: Was hat man sich darunter vorzustellen?
In der Ami-Siedlung gab es bis in die frühen 2000er Jahre keine befestigten Gehwege und erheblich mehr Platz für Autos. Noch mehr als jetzt, muss man vielleicht ergänzen, aber schon seit 1957 nur mit Tempo 30. Deutsch sind mittlerweile die akkurat ausgeschilderten und normierten Parkbuchten, tausend Verkehrsschilder, hohe Bordsteine, und alle paar Meter Gullis fürs Regenwasser, sowie der unverzichtbare weiße Mittelstreifen.
An den ehemals schmucklosen und durchnummerierten Häusern wurden Balkone nachgerüstet; was sich drinnen verändert hat, weiß ich leider nicht. Interessant und ungewöhnlich war und ist die Ausrichtung der Straßen, die bogenförmig verlaufen, und eben nicht, wie man es von amerikanischen Städten erwarten würde, rechteckig mit dem Lineal gezogen wurden.

Irgendwie unheimlich
Obwohl heute alles ganz muggelig ist, und alle paar Minuten die vertraut blau-weißen öffentlichen Busse durch die Siedlung schaukeln, erzeugt sie bei mir immer noch Restgefühle einer No-Go-Area. Das war Ami-Land, Sperrzone, denn  "zum Schutz der Amerikaner vor Anschlägen (u. a. der RAF) in den 1980er Jahren wurde die Wohnanlage an den Zufahrten mit Kontrollposten versehen und z. B. die Marklandstraße zunächst gesperrt. Im Zuge der Übernahme der Straßen durch die Stadt München wurde die Straße wieder geöffnet." (Wikipedia1)
"Für die meist nur 18 Monate in München Stationierten war es kaum nötig, Kontakt zu ihrer deutschen Umgebung aufzunehmen", heißt es in der Broschüre der Münchner KulturGeschichtsPfade. Man blieb unter sich.

Auf Tuchfühlung: Little Oktoberfest
Immerhin: Einmal im Jahr, am 4. Juli, gab es ein Deutsch-Amerikanisches Fest, wo man unter anderem authentische (frisch gegrillte) Hamburger essen konnte. Bis dahin hatte ich nur die Produkte aus der einschlägigen Schnellrestaurantkette gekannt, und war erstaunt, wie anders (und wieviel besser) ein "richtiger" Burger schmeckt. Diese interkulturellen Feste endeten ebenfalls mit der Übernahme der Siedlung, aber wenigstens sind uns die guten Burger geblieben: Die gibt's längst in einheimischen Lokalen wie dem Giesinger Garten, und werden dort mit Besteck und Porzellanteller serviert. 😏

Ein ganz spezielles Kuriosum
gibt oder gab es auch: Vor dreißig Jahren hatte die russisch-orthodoxe Kirche den Amis die "Perlacher Forst Chapel" abgekauft und umgestaltet. "Die ehemalige Kirche der US-Army ist seit 1994 eine russisch-orthodoxe Kathedralkirche der Heiligen Neumärtyrer und Bekenner Russlands." (Wikipedia1 > Geschichte)
Diese Kirche wollte ich neulich auch fotografieren, konnte sie aber nicht finden. Auf dem Weg zum Zahnarzt hatte ich keine Zeit länger zu suchen, muss im Juli aber wieder zum Doc, neuer Anlauf.
Die Zeiten und die politische Großwetterlage ändern sich, Bauwerke und Baudenkmäler sind Zeichen der jeweiligen Zeiten. Darum finde ich Denkmalschutz schon wichtig.
Bei den weiterführenden Links finden Sie noch eine Dokumentationsreihe von zdf info, und das nächste Mal nehme ich Sie mit zum McGraw-Graben.

Siehe auch: PyramedialKleinod, Bloß keine Diät!, Glückskeks-Wahrheiten, Der große Rausch, Kennen Sie den?, Informationshoheit, Big John Carpenter, Derweil an einem anderen Ort..., Das Ende einer Ära, Der perfekte Moment, Mugl-Tour, Schach, aber nicht matt

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