Freitag, 23. Juni 2023

Oh Marylin!

#Schaufenster  #Deko  #München  #Giesing 

#Muttergeschichten

Schaufenster, die von Amateuren gestaltet werden, und manchmal so aussehen, wie das im heutigen Foto, stehen in einem krassen Missverhältnis zu den Schaufenster-Designs auf Münchens Nobel- und Shoppingmeilen. Dekorieren kann nicht jede*r.
Meine Mutter ist ja der Ansicht, dass ich für so etwas auch kein Talent hätte, und mich bestenfalls als Hilfskraft eigne. Wenn es mal wieder so weit ist, dass nach dem Abstauben Gegenstände richtig platziert werden müssen, erzählt sie mir eine ihrer Lieblingsgeschichten aus den frühen 1960er Jahren. 

Damals war meine Mutter als junge Angestellte in einem alteingesessenen Münchner Schreibwarenfachgeschäft tätig. Sie hätte gerne einen kreativen Beruf gelernt, aber ihr Vater hatte alle ihre Vorschläge abgelehnt. Man wurde erst mit 21 Jahren volljährig, die konservativen Eltern hatten das Sagen und das letzte Wort. Es musste etwas "Solides" sein, also Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau. Später standen sowieso Heiraten und Kinder kriegen auf dem Programm, und natürlich die Fürsorge für die alten Eltern. Meine Mutter hatte andere Pläne, sie wollte beruflich erfolgreich sein, ihr eigenes Geld verdienen, und sich von niemandem etwas vorschreiben lassen.

Perfektionismus
Wenn im Schreibwarenladen die Schaufenster neu dekoriert werden mussten, kam ein eigens beauftragter Profi angereist. Der gab dem Personal vor Ort Anweisungen, wie die Fenster auszusehen hatten, und was zu tun war. Das dürfte heutzutage bei den internationalen Designer-Markenläden nicht viel anders sein.
Bei den Dekorationsarbeiten war meine Mutter mit glühender Begeisterung dabei, auch wenn diese Tätigkeit erst nach Ladenschluss begann, und sich bis in die späten Nachtstunden zog. Der Dekorateur hatte ihr wohl in Aussicht gestellt, sie zur Dekorateurin auszubilden, und da strengt man sich besonders an.
Immer wieder ließ er meine Mutter ins Schaufenster steigen, und schaute von außen, aus Kundenperspektive, in die Auslage. Dann mussten die Waren und Dekorationen im Fenster exakt nach Anweisung ausgerichtet werden: Die Schächtelchen hier zwei Zentimeter nach links, die noblen Füller dort einen Zentimeter nach rechts, die Vase etwas weiter nach hinten, die Stifte auf die Diagonale... so ging das, stundenlang. ("Das ist nervig, aber ich habe das ja auch gemacht!")
"Und dann...", sagte meine Mutter, "hatte ich meinen Mantel schon an, und wollte um zwei Uhr nachts nach Hause fahren. Aber dann ist dem  Dekorateur aufgefallen, dass ein Preisschild noch nicht ganz gerade hing. Also habe ich mir meinen Mantel und die Schuhe wieder ausgezogen, und bin nochmal in das Fenster gestiegen."
"Bis alles gerade war", vollendete ich den Satz, denn diese Geschichte hatte ich schon hundertmal gehört.
"Ja! Bis alles gerade war", bestätigte meine Mutter stolz und mit Nachdruck.
"Mhm", sagte ich. "Du wohnst aber nicht in einem Schaufenster. Das hier ist ein Wohnzimmer, und wir schreiben das Jahr 2023."
Meine Mutter war sprachlos, und not amused über meine Antwort.

Wunsch und Wirklichkeit
Die erhoffte Ausbildung zur Dekorateurin hat nie stattgefunden, und insgesamt ist im Leben meiner Mutter vieles nicht so gelaufen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Unerfüllte Lebenswünsche werden gerne an die nächste Generation weiter gereicht, manchmal ganz bewusst (Unternehmensnachfolge) oder unbewusst. Zu den Klassikern gehören Eltern, die selbst gerne Karriere als Schauspieler oder Sportler gemacht hätten, und ihre Kinder dann sehr früh in die jeweilige Richtung fördern. So manche tolle Karriere wäre ohne dieses Muster nie zustande gekommen. Biografien von berühmten Menschen sind da oft sehr aufschlußreich. Manchmal wird auch eine Generation übersprungen, und die Enkel übernehmen den Auftrag.

Künstlerische Ader
Ich war unlängst zutiefst erstaunt, als ich erfuhr, dass mein Großvater meiner Mutter vorgeschlagen hatte, sie solle doch an die Kunstakademie gehen. Dummerweise hatte sie zum Malen keine Lust. Das wiederum war das Lieblingshobby meines Großvaters, ebenfalls ein unerfüllter Berufswunsch aus der vorletzten Generation, dem zwei Kriege und eine Wirtschaftskrise in den Weg gekommen waren. Diesen künstlerischen Auftrag hat meine Mutter später an mich und meinen Bruder "durchgereicht". Sie selbst hätte gerne ein Instrument gelernt, mein Bruder ist Musiker geworden... 

Hinter dieser "Auftragsvergabe" stecken keine bösen, sondern meist die guten Absichten: Dem Kind soll es besser gehen, als einem selbst, es soll alles haben, was man selber nicht hatte. Es ist nur dummerweise ein ganz anderer Mensch, und hat oft ganz andere Ideen und Neigungen. Mit der Erkenntnis oder Botschaft Ich bin nicht so, wie du mich gerne hättest muss man irgendwie klarkommen. Im besten Fall kann man seinen Frieden damit schließen, und manchmal wird um Grenzen gekämpft.

Welches Echo gibt es in Ihrer Familie? Welchen unerfüllten Auftrag hätten Sie (theoretisch) noch zu erledigen? Welchen haben Sie schon erfüllt - oder wieder abgegeben? 😏 

Wenn du wissen willst, ob du erleuchtet bist, verbringe ein paar Tage mit deiner Familie“
– Dalai Lama

Siehe auch: Familienbande, Kinder, Kinder; Mom and Dad: Schaff dir bloß keine Kinder an, Lichtung, Intensiv, Damals..., Als ich zehn war, Finde den Fehler, Sei lieb - bete und gehorche, Konfliktscheu, Zombie?!, Feste feiern, Endlich...!, Oh Marylin!Da muss ich ja denken!, Weltuntergang, Unterhaltsam, Ein Untier ist los!, Personalfragen

Schaufenster: Schau mir in die Augen, Pizzafrisur, Goldig, Verspiegelt

Weiterführende Links

  • Familienmuster: Eltern geben ihren Kindern nicht nur Größe und Augenfarbe weiter - Tagblatt

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