Freitag, 12. August 2022

Sei lieb - bete und gehorche

Falls Sie Netflix haben und starke Nerven obendrein, dann schauen Sie sich die vierteilige Mini-Serie an, die genauso heißt, wie der Titel dieses Artikels: Sei lieb - bete und gehorche. Es ist eine Dokumentation aus dem Jahr 2018, FSK 16, gerade neu erschienen, und spannender als jeder Krimi.

Vielleicht dachten Sie bis heute, dass Scientology, die Zeugen Jehovas, islamistische Fundamentalisten oder nordkoreanische Diktatorenanhänger*innen so ziemlich das krasseste sind, was es auf unserem blauen Planeten gibt. Nach diesen viermal 45 Minuten haben Sie nochmal ein Beispiel für ... ja, jetzt gehen mir die Worte aus. 

Lebenslange Konditionierung
Die Serie dokumentiert, wie Menschen von klein auf in jede noch so widerwärtige Lebenssituation hinein konditioniert werden können, und das über Generationen hinweg. Abgesehen von den beschriebenen und dokumentierten Ereignissen, die alleine schon unsäglich sind, erschüttert es mich zutiefst, dass diese "Gemeinde" selbst nach der Verurteilung ihres irrsinnigen Sektenführers weiter besteht. Der Glaube ist in den Köpfen der Sektenmitglieder so fest verankert, dass es kein Entrinnen für sie gibt. Die meisten sehen nicht einmal, was sie anrichten oder was ihnen angetan wird. Sie kennen es nicht anders.

Widerstand ist zwecklos...?
Jede noch so kleine Regung von innerem Widerstand wird vermeintlich "aus eigenem Antrieb" übergangen, oder durch sozialen und psychologischen Druck ausgemerzt. Diese Menschen sind lieb, sie beten und gehorchen. Sie bleiben unter sich, sie missionieren nicht, und sind davon überzeugt, das Richtige zu tun. So sind sie für immer glücklich, solange ihnen keiner glaubhaft vermitteln kann, dass es eine völlig andere Welt(anschauung) gibt. Die der Heiden. Da bleibt man erst recht unter sich und schottet sich ab. Dass diese Heiden auch ihre Macken haben, ist wieder ein ganz anderes Thema. Die positive Botschaft der Serie besteht darin, dass eine mutige Frau die Sache schließlich ans Licht und die Untersuchungen ins Rollen gebracht hat. In diesem Zusammenhang fällt mir gerade noch ein Spielfilm ein, der unlängst auf 3sat gezeigt wurde: Kill the Messenger. Anderes Thema, aber auch sehenswert.

Der Glaube versetzt Berge
Die Manipulationsanfälligkeit der menschlichen Psyche ist enorm, und die modernen Manipulationsmethoden sind weitaus subtiler als die von Sektenführern. Der größte Irrtum, dem man unterliegen kann, besteht darin zu glauben, dass man selbst immun dagegen sei. Sekten oder faschistoide Gruppierungen sind nur die augenscheinlichste Variante, besonders krasse Sonderfälle von Gehirnwäsche. Alle paar Jahre gibt es neue Sekten-Enthüllungen. Es sieht aus, als seien es jedes Mal absonderliche Einzelfälle von besonders abscheulichen Irren, die man nur aus dem Verkehr ziehen muss, und dann ist alles wieder gut. Leider nein. Das Muster dahinter ist ein Dauerbrenner, nicht nur im religiösen Bereich.
Als aufgeklärter Weltbürger mit wissenschaftlich fundiertem Hintergrund kann man "Sektenmuster" noch relativ leicht entlarven, und einen großen Bogen um fanatische Gruppen oder Menschen machen. Trick- und Ehebetrüger nutzen jedoch das gleiche Einfallstor, und Werbefachleute kennen es gut. Es ist Teil des Menschseins, dass wir geistig "programmiert" werden können. Ohne diese Eigenschaft wären wir alle "unerziehbar" und womöglich total asozial oder gar psychopathisch. Unsere Lebensumstände und die Menschen, denen wir in der Kindheit begegnen, beeinflussen die Grundzüge dieser "Programmierung" am stärksten. Sie lässt sich im weiteren Lauf des Lebens verändern - von außen und von innen.

Manipulationsanfälligkeit ist keine Frage der Intelligenz
Die Leute, die in der Dokumentation zu Wort kommen, sind hoch intelligent. Das Einfallstor für Manipulationen ist nicht (nur) der Verstand, es sind vor allem die Emotionen und die sozialen Bindungen. Die entstehen, bevor sich der Verstand entwickelt, und sie verhindern den Ausstieg aus offensichtlich kranken Systemen. Selbst wenn ein Teil der Persönlichkeit weiß und immer wieder sagt "Es ist verkehrt", kommt eine andere innere Instanz daher, die widerspricht: "Aber ich muss es tun, weil...". 

Man sieht im vierten Teil der Dokumentation, dass die Befreier nicht willkommen geheißen,  sondern als Feinde betrachtet werden. Der Schuss geht nach hinten los. Wer nicht gerettet werden will, kann nicht gerettet werden. Den Ausstieg schaffen nur Menschen, die an irgendeinem Punkt selbst erkennen, dass irgendwas nicht stimmt, ihrem Wunsch nach Veränderung folgen, und die Widerstände überwinden. Damit man auf diesem Weg nicht vom Regen in die Traufe gerät, braucht man vertrauenswürdige Begleiter*innen, einen wachen Verstand, und sehr viel Klarheit über die eigenen Gefühle. Das ist ein langer, wenn nicht sogar lebenslanger Entwicklungsprozess, mit Höhen und Tiefen.

Siehe auch: Manipulationstechniken, die Sie kennen sollten, Drahtseilakt, Methodik, Familienbande, Still-Leben, Pass auf, was du denkst!

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