Mittwoch, 17. August 2022

Wo sind die alle?

 

Es heißt es gebe nichts Langweiligeres oder Unwichtigeres als die Schlagzeilen von gestern. Vielleicht ist das so, vielleicht auch nicht. Seit gut zwei Jahren fotografiere ich gelegentlich die Zeitungskästen am Straßenrand, weil es bisweilen interessant, lustig oder auch bemerkenswert ist, womit die lokalen Tageszeitungen "aufmachen". Manchmal drehen sich alle Schlagzeilen des Tages ums gleiche Thema, nur in jeweils anderen Worten. An anderen Tagen macht jede Redaktion was anderes. Wenn der Aufmacher "Die schönsten Biergärten in München" lautet, kann man davon ausgehen, dass es gerade nichts Wichtigeres zu berichten gibt. 😈

Als mein neues gebrauchtes Handy vor ein paar Tagen eintraf, war es gut verpackt. Zwei zerknüllte Seiten aus einer Rendsburger Lokalzeitung gab es als charmante Recycling-Beigabe, mit Neuigkeiten vom anderen Ende der Republik! Die Neuigkeiten waren schon etwas älter, von Mitte Mai, aber egal: Ich mag solche Zufallsfunde. 

Dieser brachte ein Thema in mein Gedächtnis zurück, das mich schon seit einiger Zeit im Hintergrund beschäftigt: Fachkräftemangel. Den gab es immer schon, aber ich hatte ihn geistig mehr in Richtung Maschinenbau oder PHP-Programmierung verortet, also in Branchen, in denen ich mich leider nicht als Fachkraft anbieten könnte, wenn ich denn mutterpflegebedingt überhaupt einer vernünftig bezahlten Erwerbstätigkeit nachgehen könnte. 

Bierkrüge schleppen auf dem Oktoberfest könnte ich vielleicht, das wäre zeitlich befristet und nicht weit weg vom Mutterhome. Aus einer zuverlässigen Quelle weiß ich, dass man als Wiesnkellner*in früher richtig gut verdient hat, hinterher ordentlich kaputt ist, und wahrscheinlich massive Rückenschmerzen hat. Nein, die Hexe soll sich von mir fernhalten.
Vor Corona war es gar nicht so leicht diesen Kellner*innenjob zu ergattern, die Leute standen Schlange. Heuer soll das anders sein. Ist es, weil die O-Fest-Variante eines hinlänglich berühmt und berüchtigten Virus auf uns lauert? Als Oktoberfestfotografin könnte ich mich bewerben, da hätte ich einschlägige Vorerfahrungen. Aber wer lässt sich schon gegen Bezahlung fotografieren, wo doch Jede*r ein eigenes Fotohandy in der Tasche hat? Bezahlung auf Umsatzbasis. Ts. Dämliche Hüte an Besoffene verkaufen geht vielleicht noch, wenn man einen Bodyguard dabei hat. 😅 Nein, ich bin in meinem zweiten sozialen Jahr, und somit eine Leistungsträgerin der besonderen Art. Da muss ich keine Bierkrüge schleppen.

Die Gastronomen sind generell verzweifelt, heißt es, weil sie kein Personal finden. Und dann lese ich in meiner Beipackzeitung auch noch, dass in Griechenland weitere 50.000 Stellen offen sind. Wo sind die Leute alle hin? Als ich neulich in einem Wartezimmer hockte, weil mein für 9 Uhr zugesagter Termin um 9:15 immer noch nicht angefangen hatte, griff ich zum Focus. Die Titelseite versprach, dass man mir in diesem Blatt meine dringliche Frage beantworten würde. Ich wollte nicht riskieren ins Arztzimmer gerufen zu werden, bevor meine Wissenslücke gefüllt wäre. Also überflog ich den Artikel, auf der Suche nach dem Wesentlichen. Der Beitrag war sehr lang, die Schrift klein, und es gab ausführliche bildhafte Beschreibungen der Ist-Situation: Chaos bei Boden- und Flugpersonal, den Sicherheitsdiensten, in der Gastronomie... ja bitte, das wusste ich doch alles schon! Der einzige Hinweis auf den Verbleib der so dringend benötigten Arbeitskräfte bestand am Ende darin, dass die alle "in die Industrie" abgewandert seien, weil man dort besser verdiene. Was für eine Industrie ist das? Da will ich auch hin. Oder vielleicht doch nicht? Am Ende lauern dort irgendwelche Menschenfänger, die mich aufessen wollen. Das kenne ich aus dem Mutterhome.

Meine Mutter fragt mich immer wieder, wieso im Fernsehen so viele Menschen auf den Straßen herumrennen oder im Urlaub sind, und nicht "auf Arbeit". Die Schlangen an den Tafeln brechen derzeit alle Rekorde, aber das ist was anderes. Anscheinend können auch die besten investigativ recherchierenden Journalisten nicht so genau erklären, wie sich das alles verhält. Hoffentlich haben nicht irgendwelche Aliens die Arbeitskräfte weggebeamt und auf den Mars verfrachtet. 😜 

Momentan ruhen meine Hoffnungen auf dem statistischen Bundesamt, denn das hat bekanntlich den Zensus 2021 durchgeführt. Der Fragebogen war erstaunlich überschaubar, es sei denn, man wurde für eine separate "Haushaltsbefragung" ausgewählt. Ausgerechnet meine Mutter war eine dieser Glücklichen. Es lag ein Zettel im Briefkasten mit Termin, wann der Interviewer vorbeikommen würde. OMG. Ich ging flugs auf die Zensus-Seite im Internet, schaute mir die Fragen an, und wäre fast vom Stuhl gefallen.

Danach rief ich bei der Handynummer an, die auf dem Zettel stand, um einen günstigeren Termin für die Vor-Ort-Befragung zu erhalten. Als ich die Situation Pflegefall erklärte, konnte ich diese Haushaltsbefragung sogar telefonisch abwickeln, horrido! Zehn Minuten hat es gedauert. Es wäre noch einfacher gewesen, wenn man gleich zu Beginn des Fragebogens hätte eintragen können: Mutter kriegt Rente, muss und kann nicht mehr arbeiten, fertig.
Aber nein, der arme Befrager musste sich auf seinem Pad durch den gesamten Fragenkatalog klicken. Also wenn irgendjemand irgendwann weiß, wer wo oder nicht arbeitet und warum eigentlich nicht, oder wann die Befragten wieder mit Arbeiten anfangen könnten, dann das statistische Bundesamt!

Auf die Veröffentlichung der Zensus-Ergebnisse bin ich seitdem noch neugieriger als auf den Focus-Artikel. Die Sache mit den 300.000 EUR vom Amt für unerwartet leerstehende Flüchtlingsunterkünfte da oben in Schleswig-Holstein ist mir zu kompliziert. Das hat wohl irgendwas mit Dänemark zu tun, somit sind das Auslandsnachrichten und das überfordert mich. Die Lokalnachrichten aus München sind traurig genug: Einer unserer Lieblingsbiergärten ist schon seit dem letzen Jahr geschlossen, weil der neue Eigentümer das denkmalgeschützte Ensemble renovieren will, und immer noch keine Baugenehmigung für seine Pläne hat. Wie heißt der Investor? Qcoon Real Estate. Ah. Vielleicht ist das eine dieser geheimnisvollen Industrien, in die zur Zeit alle Arbeitskräfte und Immobilien hinüberwechseln. Die Welt ist in Bewegung. Das geht so schnell, dass ein Zensus alle zehn Jahre gar nicht hinterherkommt. Wir brauchen wahrscheinlich mehr Daten. Und IT-Fachkräfte für die Auswertung. 😉

Siehe auch: Was hat uns die Katze denn heute wieder vor die Tür gelegt?, Bitterböse: Don't look up, Hexenschuss, Kaloriensparkalkulation, Kansas City ShuffleHouston, wir haben eine Doppeldelle!, Befremdlich, Phantasie

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