Benutzen Sie ein Navigationssystem? Wenn ja: wie oft, und bei welchen Gelegenheiten?
Letzte Woche gab es nach über zweieinhalb Jahren Pause wieder einen Stammtisch mit ehemaligen Kolleginnen. Wir hatten uns vor Corona zweimal jährlich getroffen, in den Jahren davor stets am gleichen Ort. Mit dem Fahrrad brauche ich etwa zehn Minuten dorthin, und eigentlich kenne ich diese Strecke gut. Diesmal musste ich wirklich überlegen: Wie komme ich dorthin!?
Auf den Wegen und Abzweigungen, die ich in den letzten zwei Jahren beinahe täglich genommen habe, kenne ich
sozusagen jeden Baum und jede Straßenlaterne. Ich muss nur die Augen
schließen und sehe alles vor mir. Nicht so beim Weg zu diesem Biergarten. 😧
Mir fehlte eine Abzweigung im Gedächtnis, und ich verwechselte dauernd zwei parallel verlaufende Straßen. Eine von beiden hatte ich häufiger befahren als die andere. Diese häufiger frequentierte aber falsche Route schaltete sich in meiner Erinnerung ständig drüber. Es war wie bei einer verkratzten Schallplatte, bei der der Tonabnehmer eine Rille konsequent überspringt. Das gibt's doch gar nicht!
Weil mich diese lokale Gedächtnislücke richtig ärgerte, ging ich die Strecke in Gedanken mehrmals durch, auch rückwärts. Der Rückweg ist nicht derselbe wie der Hinweg, weil die Route an einer Stelle durch zwei Einbahnstraßen führt. So wusste ich, wo der Knackpunkt lag, trotzdem fehlte die visuelle Erinnerung. Gut, dass ich sie an diesem Abend auffrischen konnte, nebst Update für einen Neubau, den ich nur als jahrelange Baustelle in Erinnerung hatte. Jetzt gibt es schon wieder eine neue, zweihundert Meter weiter. Meine Güte...
Natürlich hätte ich sofort bei Google Maps nachschauen können, fertig. Oder mit dem Navi fahren, das ich auf meinem Smartphone habe. Das mache ich an völlig neuen oder an Orten, an denen ich mich schlecht auskenne. Auf Wegen, die ich auswendig kennen sollte, kommt das gar nicht in Frage. Da soll sich mein Gedächtnis bitteschön ohne technische Krücken aktualisieren.
Vergesslichkeit?
Durch dieses Erlebnis habe ich am eigenen Leib erfahren, wie schnell das Gehirn funktionale Erinnerungen löscht. Bei emotional stark aufgeladenen Erinnerungen dauert es erheblich länger. Meine alten Schulwege würde ich heute immer noch finden.
Vergessen ist prinzipiell eine nützliche Funktion, weil man sich nun wirklich nicht alles für immer merken muss. Das hat die Natur ganz gut eingerichtet, damit die freiwerdenden Leitungsbahnen im Gehirn für neue und wichtigere Gedächtnisprozesse genutzt werden können.
Früher hieß es, dass das Gehirn ab einem bestimmten Alter generell "abbaut". Das ist ein alter Stand des Wissens. Neuester Stand: Das Gehirn bleibt bis ins hohe Alter "plastisch", wenn man es benutzt. Fiese Krankheiten wie Demenz sind eine andere Nummer. Da wird erfreulicherweise auch massiv geforscht, und hoffentlich gibt es beizeiten ein Heilmittel und bessere Präventionsmethoden.
Im Hinblick auf die "normalen" Alterungsprozesse und die Vergesslichkeit reichen Sudoku spielen oder Kreuzworträtsel lösen nicht aus. Man wird vielleicht gut in diesen speziellen Übungen, vergisst aber trotzdem andere Dinge. Wenn man schon trainiert, dann am besten die "Funktionen", die man im echten Leben wirklich braucht: Gesichter, Namen, Termine, Orte, Wegstrecken. Das haben Sie alles auf Ihrem Handy? Ich auch, aber die wichtigsten Termine für die jeweils kommende Woche habe ich lieber zusätzlich im Kopf. Bewegung ist nicht nur für die körperliche Fitness wichtig, sie unterstützt auch die Merkfähigkeit.
Lernen und Verlernen
Die Orientierung im Raum lässt nach, je weniger Wege wir zurücklegen. Ich würde mittlerweile behaupten: Gerade mit zunehmendem Alter wirken neue Impulse und mehr oder weniger moderate Herausforderungen wie ein Jungbrunnen. Natürlich habe ich es zuhause schön und am bequemsten, aber die Abläufe sind immer die gleichen, Routine. Neue Impulse sind reduziert, der Geist wird träge, das Gehirn auch, wenn man es nicht mit wirklich interessanten Dingen beschäftigt. Nachrichten gehören für mich nicht in diese Kategorie.
Um wirklich etwas anderes zu erleben, muss man die Bequemlichkeit - oder auch Ängste und Sorgen - überwinden. Wer in einer depressiven Phase steckt, will gar nicht mehr vor die Haustür, weil das viel zu anstrengend ist. Da helfen keine gutgemeinten Ratschläge, da müssen Profis ran, und meistens auch Medikamente.
Wenn es hier und da nur etwas zwickt oder zwackt, oder wenn die Bequemlichkeit überhand nehmen will: Bleiben Sie aktiv. Routinen vereinfachen und beschleunigen feste Abläufe, Brüche in der
Routine sorgen zunächst für Unruhe, aber auch für Aha-Momente. Wir
brauchen beides in ausgewogenem Maß.
Sorgen Sie für schöne Erlebnisse, gönnen Sie sich etwas, und erleben Sie es mit allen Sinnen. Auch soziale Kontakte sind absolut wichtig. All das ist in den letzten zwei Jahren massiv zu kurz gekommen. Online-Chats oder Videokonferenzen können reale Begegnungen nicht ersetzen, und eine Reisedokumentation im TV ist kein Ersatz für eine richtige Reise. Schalten Sie die elektronischen Kisten immer wieder aus.
Falls Sie noch in so einem "Leben aus zweiter Hand" feststecken, warten Sie nicht länger. Jeder Schritt nach draußen und alles Ungewohnte verändern etwas in Ihrem Gehirn und in Ihrem Körper. Es mag sich anfangs ungewohnt und irritierend anfühlen, aber das gibt sich mit der Zeit. Was schlechter geworden ist, kann auch wieder besser werden. Sobald Sie diese Aha-Momente selbst erleben, werden Sie mehr davon haben wollen - und bekommen.
Siehe auch: Von A nach B, Routenplan B, Etappenziele, Routine ist so angenehm, Unfallschutz, Aha-Moment, Jetzt oder nie, Wie es der Zufall will, Daniel-Day-Lewis-Momente, Manche mögen's wild, Voll energetisiert, Tabasco!, Alter Krimskrams, Zeitnormal
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