Mittwoch, 10. August 2022

Freibad

"Wie lange warst du nicht mehr im Freibad", fragte mein Mann, "vierzig Jahre?"
"Ja, das kommt ungefähr hin", sagte ich, nachdem wir uns darauf geeinigt hatten, dass Swimming Pools im Urlaub nicht in die Kategorie Freibad fallen. 😂
Wir hatten sogar Freikarten, weil meine Mutter letztes Jahr von den Stadtwerken welche geschenkt bekommen hatte, für langjährige Treue als Kundin des lokalen Strom- und Gasanbieters. Ausgerechnet meine Mutter bekommt Freikarten für die Münchner Bäder. Das war der beste Witz des Jahres: sie hat in ihrem ganzen Leben weder ein Frei- noch ein Hallenbad von innen gesehen.
"Was soll ich damit?", sagte sie, und wies mich an: "Das kannst du ins Altpapier tun."
Sie kam gar nicht auf die Idee, dass ich vielleicht ins Schwimmbad gehen könnte. Damit lag sie nicht ganz falsch: wir haben im Sommer die Isar direkt vor der Haustür. Dort kann man zwar nicht schwimmen, aber sonnenbaden, und sich zwischendurch im eisigen tiekniefen Wasser abkühlen. 

Obwohl ich im Urlaub schon mal ins Meer gehe, oder einen schönen Pool zu schätzen weiß, gehört Schwimmen nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Wandern, Radfahren, Reiten und neuerdings auch Bodyflying gefallen mir besser. Ein angeschlossenes Dampfbad oder eine Sauna erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass ich mich in der kalten Jahreszeit zu einem Besuch in einer Badeanstalt aufraffe. Meine erste Adresse hier in München ist das Müllersche Volksbad, wegen seiner wunderbaren Jugendstil-Architektur, den Dampfbädern und der Sauna. Weil es letztes Jahr gerade all diese Corona-Auflagen gab, und das Müller'sche lange komplett geschlossen war, lagen die Freikarten nun schon seit einem Jahr in der Schublade. Mein Mann wollte mal wieder richtig schwimmen, ich will es nicht komplett verlernen, und das Wetter war fein, also ab ins Schyrenbad. Auch das liegt quasi vor unserer Haustür. 

Hey, Alter...!
"Du musst mit mir auf die Wasserrutsche", erklärte mein Mann, und bugsierte mich zum Nichtschwimmerbecken. Die Mutprobe war nicht die breite wellige Rutsche mit abschließender Arschbombe ins Wasser, sondern die Situation: Zwei Silver-Ager zwischen kreischenden Kindern, die unsere Enkel hätten sein können, benutzen eine Wasserrutsche. "Wir sind eben alte Kinder", lachte mein Mann, und fügte hinzu: "Schade, dass es keinen Sprungturm gibt." Er hechtete zurück ins Schwimmerbecken, bevor der Bademeister zur Trillerpfeife greifen konnte. Ich nahm die Leiter.

"Ich habe DLRG Gold, wenn was ist, hol ich dich raus."
Ja, mein Schatz kann richtig gut schwimmen und tauchen. Ich halte mich ganz gut über Wasser, aber meine Schwimmtechnik ist autodidaktisch entstanden. Ab der sechsten Klasse hatten wir in der Schule Schwimmunterricht, viel zu selten, um die komischen Marotten zu korrigieren, die ich mir angewöhnt hatte. Dass ich überhaupt schwimmen kann, ist dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass wir Anfang der 1970er Jahre unmittelbar neben einem Freibad wohnten. Ich war sieben Jahre alt und wir konnten vom Balkon direkt ins Freibad schauen. Dort gab es zwei große Becken, eins mit einer einfachen aber hohen Rutsche, das andere mit einem Ein- und einem Drei-Meter-Sprungbrett.
Zwischen unserer Wohnanlage und dem Bad war ein Maschendrahtzaun mit einer Tür, die nicht abgeschlossen war: freier Eintritt durch den Hintereingang. Meine Mutter meinte, das wäre okay, weil wir den ganzen Sommer lang die massive Geräuschkulisse aushalten mussten. Ich bekam Schwimmflügel an, und dann ab ins Freibad. Meine Mutter winkte mir vom Balkon aus zu, und kümmerte sich danach um ihren Haushalt. Es gab ja einen Bademeister, mit dem sie wohl gesprochen hatte, über den Maschendrahtzaun hinweg; dass ich alleine zum Schwimmen komme, und sie da oben im Haus ist. Wo tut man das Kind auch hin, wenn man berufstätig ist, und sechs Wochen Sommerferien sind?

Im Alleingang
Ich ging also im kalten Wasser schwimmen, bis meine Zähne klapperten, und legte mich zwischendurch auf die heißen Steine am Beckenrand, um mich wieder aufzuwärmen. Sonnencreme gab's einmal vorher, ein Sonnenhut wäre sowieso nass geworden. Wenn ich in dieser Zeit jemals einen heftigen Sonnenbrand gehabt hätte, müsste ich mich eigentlich daran erinnern. Ich hörte meine Mutter in dieser Zeit nur oft sagen, dass ich braungebrannt sei, wie ein (das Unwort erspare ich Ihnen).
Irgendwann nahm ich erst einen, dann den anderen Schwimmflügel ab, und blieb trotzdem über Wasser. Ich übte im sicheren Nichtschwimmerbereich, bis ich längere Strecken sicher schaffte, traute mich allmählich ins tiefere Wasser. Schließlich wagte ich auch den Sprung vom Drei-Meter-Turm, mit zugehaltener Nase - so wie Mädchen das halt machen. Es war eine unbeschwerte und unschuldige Zeit, die ein Ende fand, als familiäre Ereignisse ihren Lauf nahmen, und wir in eine andere Wohnung zogen.
Mission accomplished, Schwimmen gelernt: Kind bleibt ohne Schwimmflügel über Wasser. Ganz (von) allein. Von anderen Kindern sollte ich mich tunlichst fernhalten, weil die bloß schubsen, versuchen einen unterzutauchen, und das ist gefährlich. Es gab auch Badeunfälle in dieser Zeit, den Rettungswagen konnten wir vom Balkon aus sehen. Ab diesem Zeitpunkt war die Rutsche tabu.

Kindheitstrauma
Meine Mutter begleitete mich nie, weil sie panische Angst vor Wasser hatte. Die Geschichte erzählte sie immer wieder: Im zweiten Weltkrieg mussten sie und ihr Bruder mit der Oma während der Flucht von Prag nach München durch einen Grenzfluss schwimmen. Die Russen bewachten das östliche Ufer, und ein Soldat erklärte wohl im Tausch gegen die letzte verbliebene Armbanduhr, wann der Wachwechsel stattfände, und wann die beste Zeit wäre, um mit den Kindern aufs amerikanische Territorium, nach Bayern zu gelangen. Mit einem Gürtel an die Mutter geschnallt musste "geschwommen" werden.
Ich verstand also schon in jungen Jahren, wie wichtig es ist, schwimmen zu können, und warum meine Mutter nicht nah ans Wasser und schon gar nicht hinein wollte. So wird man "Autodidakt".

"Viel Spaß und schöne Stunden in Ihrem Lieblingsbad",
wünschte der Leiter der Abteilung Kundenservice in seinem Brief, dem die beiden Freikarten beigelegt waren. Ja, vielen Dank, Herr Tauber. Meine Mutter konnte dieses Geschenk weder wertschätzen noch nutzen, mit ihren 84 Jahren und ihrem Wasser-Trauma, aber mir und meinem Mann haben Sie einen großen Gefallen getan. Es war ein wunderbarer Nachmittag unter schattigen Bäumen, auf einer unerwartet weitläufigen Wiese. Dort waren auch unglaublich vielen Bienen, die sich emsig am weißen Klee bedient, und überhaupt nicht für unsere mitgebrachte Wassermelone interessiert haben. Friedliche Koexistenz verschiedener Spezies unter strahlend blauem Sommerhimmel, mit genug Platz zum diskreten Abstandhalten, selbst ohne Corona-Auflagen.

Das Schyrenbad ist wunderschön, da gehen wir jetzt bestimmt häufiger hin. Die verwegene Kinderrutsche werde ich gerne nochmal benutzen, tauchen üben, und vielleicht sogar meine Schwimmtechnik verbessern. Es ist toll, dass es Schwimmbäder gibt, auch wenn ein Fluß nebendran vorbei fließt. Darum hoffe ich sehr, dass die Bäder in Deutschland wieder genug Bademeister*innen finden, damit sie nicht aus Sicherheitsgründen geschlossen bleiben müssen. Schwimmlehrer*innen wären auch nicht schlecht. Es gibt einige, wenn nicht sogar viele Dinge, bei denen die körperliche Erfahrung durch nichts zu ersetzen ist. Weniger Internetz, mehr "analoges" ErLeben.

Siehe auch: Intensiv, Als ich zehn war, Kindheitserinnerung, Familienbande, Chillout, Warum ich Snooker liebe, Fotosport oder Biergartentour?, Schnee, der auf Ceran fällt, Badewetter, Gluthitze

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