Donnerstag, 20. Juli 2023

Ein Untier ist los!

#Isarauen  #München
#Muttergeschichten

"Ein Untier ist entsprungen!", ruft meine Mutter aus ihrem Zimmer.
Ich frage: "Wo?"
"In Berlin!"
"Wo kommt es denn her?"
"Das wissen sie nicht."
"Was für ein Tier ist denn da entsprungen?", hake ich nach.
"Das wissen sie nicht. Sie finden überall nur Knochen und Leichenteile!"
Ich habe mehr als ein Fragezeichen auf der Stirn. Es muss das reinste Gemetzel sein, da oben in Berlin?
"Wie sollen die das denn finden, wenn sie gar nicht wissen, was es ist?", ruft sie.
Die gleiche Frage habe ich mir auch gerade gestellt. Meine Mutter ist schon den ganzen Morgen in heller Aufregung, denn eine Information im TV jagt die andere.
"38 vor Christus - Kampf um Rom! Das waren noch gemütliche Kriege. Die sind überall zu Fuß hingegangen", erklärt sie mir.
"Na wunderbar", sage ich sarkastisch. Als ob das Zufußgehen einen Krieg besser machen würde.
Die Sendung über die Römerzeit ist gerade vorbei, gleich im Anschluss sind die Tempelritter dran. Der eine Papst kriegt einen Herzinfarkt, der nächste schickt die Ritter los, um den satanischen Gegner im Nahen Osten zu besiegen.
"Es ist immer dasselbe", sinniert meine Mutter, "die Herrscher nehmen sich die Landkarte und teilen die Welt unter sich auf." Passenderweise kommt gerade eine Einblendung, dass die Bundeswehr mehr Personal sucht, man sieht Leute in Uniform auf dem Bildschirm, die aber nicht mehr zu Fuß nach Rom marschieren müssen, die haben jetzt ungemütliche Autos und Flugzeuge. Meine Mutter hat schon wieder weiter gezappt. Wir rasen mit TV-Begleitung durch die Weltgeschichte, und in der Werbepause kommt ein Hinweis, dass abends was über Hitler kommt.
"Das ist alles noch da, im Osten, und die neuen kommen auch schon wieder ans Ruder", stammelt meine Mutter weiter. Wie aus dem Nichts fragt sie mich, welche Augenfarbe sie hat. Sie lacht, als ich sie mit weit aufgerissenen Augen anschaue, denn wir haben die gleiche Augenfarbe: "Blaugrau?!" Ich frage nach: "Wie kommst du denn jetzt darauf?"
"Das haben sie mich in der Klinik gefragt: welche Augenfarbe ich habe!", erklärt sie mir. "Warum??? Warum fragen die mich sowas?"

Ich kann nur spekulieren.
"Weil sie nach deinem Schlaganfall wissen wollten, ob du dich an so etwas erinnerst?"
"Auf den Kopf gefallen, Depperl geworden?!", schnaubt sie empört, und erinnert sich dabei offensichtlich an einen Schulkameraden.
"Äffchen war der Bruder von Kaffeekännchen", wirft sie mir an den Kopf.
"Äffchen? Kaffeekännchen?" Ich schaue sie fragend an.
"Wir hatten immer Codewörter", klärt sie mich auf. "Den einen haben wir immer Äffchen genannt, weil er lockige dunkle Haare hatte, und braune Augen. - Wir waren schon gemein als Kinder!"
"Ja", sage ich.
"Der Werner hatte keine blauen Augen", erzählt sie weiter.
Der Werner ist einer, der sie mal heiraten wollte, der hatte braune Augen. Und das war damals schlecht, denn ...
"Die haben die Kinder aussortiert, nach Augenfarbe! Und die Erwachsenen in der Hitlerzeit haben immer hinter vorgehaltener Hand gemunkelt, dass die Russen auch alle blaue Augen hatten und blond waren. Aber wir haben uns nicht umgedreht, als es hieß: Die Russen kommen. Wir sind weggelaufen, so schnell wir konnten", fügte sie hinzu.
Obwohl die Russen blaue Augen hatten? Ich verstehe nicht, was sie mir sagen will.
"Da stimmt was nicht, oder?", frage ich vorsichtig.
"Die Bevölkerung soll zuhause bleiben!", teilt sie mir mit, und da geht es jetzt wieder um das entsprungene Untier in Berlin. Es könnte ein Löwe sein, oder eine Raubkatze. Keiner weiß, wo die herkommt, und keiner weiß, wo die ist.
"Erst jagen sie einen Bär und jetzt einen Löwen! Sag mal: Was ist das denn für eine verrückte Zeit? Ich verstehe die Welt nicht mehr!!"

Ich schicke meinem Berliner Zoofreund eine Facebook-Nachricht und frage ihn, ob ihm ein Löwe abhanden gekommen ist, oder ob er schon auf Foto-Safari ist, schließlich wohnt er im Einzugsgebiet des entsprungenen Untiers. Er ist eindeutig näher am Geschehen und weiß vielleicht mehr.
Als ich den Zeitungsartikel aufrufe, den mein Freund gerade gepostet hatte, wird mir schlagartig klar, was mit meiner Mutter los ist: Das Untier wurde in Kleinmachnow gesichtet. Das ist der Ort, an dem sie ihre früheste Kindheit zu Beginn des zweiten Weltkriegs verbracht hatte. Vom Haus am Schleusenweg hat sie oft erzählt. Der Ortsname ist ein Trigger-Wort, das offensichtlich dreitausend Erinnerungen und Assoziationen angestoßen hat: Untier, Russen, Hitler, Leichenteile, die Bevölkerung soll das Haus nicht verlassen... Das Bild hinter dem scheinbar zusammenhanglosen Gestammel wird mir jetzt klarer: Traumatische Kriegserinnerungen. Nicht linear.
"So eine Aufregung!", ruft meine Mutter, "der Montag geht ja schon wieder gut los!"
Heute ist Mittwoch, nicht Montag, aber ich korrigiere das nicht.
"Ich muss umschalten, damit wieder etwas mehr Ruhe im Kanal einkehrt!", ruft sie, und fuchtelt mit der Fernbedienung. Neulich hatte sie versehentlich ihre Haarbürste erwischt, und sich gewundert, warum das Programm auf dem Bildschirm nicht wechselte. Als ihr klar wurde, dass sie zum falschen Werkzeug gegriffen hatte, haben wir beide herzlich gelacht.
"Jetzt geht's los, oder?", hatte sie gefragt.
"Kann passieren", meinte ich.
Seit einer Woche nimmt sie ein neues Medikament. Ich muss mal nachschauen, was das für Nebenwirkungen hat. Es hilft an einer Baustelle, und erzeugt anscheinend neue Baustellen. Insgesamt besser wird es nicht, das hat der Physio auch schon zugeben müssen.
In den nächsten Tagen wird die Frauen Fußball-WM hoffentlich für etwas mehr Ruhe im Kanal sorgen, und die Zeit überbrücken, bis das Untier in Berlin dingfest gemacht ist. Ich bin gespannt, ob meine Mutter heute Nachmittag nach einem Schnaps fragt. Als Alternative hätte ich Eiskaffee oder Kuchen im Programm. Gesund ist nichts davon, aber es beruhigt die Nerven.

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