Donnerstag, 2. Juni 2022

Zippi-Zappi

 #Muttergeschichten

Es ist ein Uhr mittags, Essenszeit im Mutterhome. Im Deutschen Musikfernsehen läuft das Wunschkonzert. Der Lautstärkeregler des TV-Geräts steht auf 12, sonst ist er bei 8 oder 9. Will sagen: Es ist relativ laut. Während ich meiner Mutter ein frisches Getränk auf den Tisch stelle, sehe ich aus dem Augenwinkel Captain Cook und seine singenden Saxofone, die sich im Rhythmus ihrer betörenden Schlagerklänge bewegen wie Getreideähren im Wind. Tulpen aus Amsterdam, Ein Stern, der deinen Namen trägt... Alles auf Saxofon. Die sieben Bandmitglieder stehen irgendwo auf einem Schiff und tragen adrette weiße Anzüge. Sie erinnern mich an Sascha Hehn auf dem Traumschiff, sechsfach geklont, nur der Bandleader trägt zur Unterscheidung marineblau.
"Können wir das Gedudel leiser machen?", frage ich, und nehme gleich die Fernbedienung, um die Lautstärke auf ein halbwegs erträgliches Maß runter zu regeln. Heute bin ich stark genug für diese Fahrstuhlmusik. An anderen Tagen frage ich, ob wir wenigstens beim Mittagessen zu einem anderen Sender wechseln können. Das hilft auch nicht viel, weil die  Stimmen aus den Dauerwerbesendungen noch nerviger sind als singende Saxofone. Ohne TV geht es nicht, und Schlager wärmen das Mutterherz. Ich lasse die Beschallung über mich ergehen und übe die mentale Meditationshaltung "Fels in der Brandung".
"Gedudel sagst du!", empört sich meine Mutter. "Das ist Musik!"
Während ich anfange zu essen, erhalte ich eine Lehrstunde in Sachen "Was ist Musik, und was nicht."

Meine Mutter erklärt: "Dieses Zippi-Zappi ist für mich sowieso keine Musik." Sie meint Rap und Hip-Hop, und sinniert weiter über das musikalische Angebot von MTV. Das hat sie früher oft geschaut, aber es gibt zuviel Zippi-Zappi, darum ist das Deutsche Musikfernsehen inzwischen angesagter. Ich höre nur halb zu, bis mich meine Mutter unversehens aus meiner Essmeditation reißt: "Hörst du was von München?!"
Es ist wie früher in der Schule, wenn einen der Lehrer dabei ertappt hat, dass man mit den Gedanken ganz woanders war.
"Nein", sage ich. Das Stichwort München kam in den letzten Minuten im mütterlichen Vortrag nicht vor. Nein ist auch eine gute Antwort, wenn man gerade nicht weiß, worum es geht, und worauf sie hinaus will. Eigentlich ist es egal was ich sage. Meine Mutter braucht nur irgendein Signal, dass ich noch anwesend bin, und ihren Ausführungen folge. Wenn ich jetzt in einem Anflug von Sarkasmus "Hollereiduljöh" sagen würde, käme ein heftiger, unkontrollierbarer Lachanfall, und dann verschluckt sie sich vielleicht am Essen. Das hatten wir schon, das ist nicht gut. Also: Was kommt als nächstes? Heintje? An das Hein Simon Special mit Interview kann ich mich noch erinnern. Es lief mindestens zweimal.
"Max Greger - das war noch eine Band!", schwärmt meine Mutter. "Aus München!!!"
Ja, an den kann ich mich auch erinnern. Oder James Last. "Pepe Lienhart ist unübertroffen", erklärt sie weiter, und zeigt auf den Fernseher mit den singenden Saxofonen, die mir von hinten die Ohren volltuten.
"Die Band ist aus der DDR!"
"Aha." Wir hatten erst vorgestern die Diskussion, dass es die DDR seit über 30 Jahren nicht mehr gibt, aber okay. Das Fass mach ich nicht schon wieder auf.
"Das ist wenigstens Musik", bekräftigt meine Mutter, und wippt auf ihrem Sessel ein bisschen mit. "Aber diese froschgrüne Gitarre - nein, fürchterlich. Nach so vielen Jahren hätte sich der Gitarrist wirklich mal eine neue Gitarre leisten können! Die ist immer noch aus der DDR! "
"Woher weißt du das?" Zum ersten Mal trage ich aktiv zum Gelingen der Konversation bei. Selber schuld. Die Schleusen sind geöffnet, der Tsunami rollt.
Ich erfahre, dass meine Mutter das  ausführliche Interview mit Captain Cook und seinen singenden Saxofonen genauestens verfolgt hat, und jetzt alles über diese Band weiß. "Seit dem Interview hält der Gitarrist seine grüne Gitarre immer hoch und in die Kamera, damit jeder sie sehen kann." Ich lerne, dass die wechselnden Bandmitglieder ihre eigenen Saxofone auf die Tonart der Truppe abstimmen mussten, um dort mitspielen zu dürfen, und dass es anscheinend gar nicht so einfach ist, so ein Saxofon entsprechend zu tunen. Und so schade, dass der Bandleader schon tot ist. Dann erzählt sie mir von einem Jugendfreund, der auch Saxofonist war, und auch nicht mehr lebt. Warum die Leute alle so früh sterben! Sie versteht das nicht.
Der Schlagermann aus Mallorca ist jetzt auch krank und hat alle Konzerte abgesagt.  (Sie meint Jürgen Drews.) Aber der hat schon genug Geld verdient.

Meine Mutter hat heute wieder Sprechperlen gefuttert, sie kommt vom Hundertsten ins Tausendste, freies Assoziieren über acht Jahrzehnte. Namen und Ereignisse rauschen an mir so rasant vorbei wie der Liveticker bei BILD TV. Am Schluss meint sie noch: "Gut, dass der Krieg verloren ging, sonst wäre ich vielleicht in Afrika gelandet."
"Deutsch Südwest?", staune ich. Das höre ich zum ersten Mal. "Wollte der Opa dorthin auswandern?"
"Ja, Zulukaffien."
Das ist endgültig zuviel für mich.
"Das hast DU jetzt gesagt", seufze ich. Bloß keine Diskussionen über deutschen Kolonialismus in Afrika und die sachgemäße Wortwahl anfangen. Mein Teller ist längst leer, ihrer noch halb voll, das Essen darauf inzwischen kalt. Ich stelle meinen Teller beiseite.
"Du isst immer so schnell", sagt meine Mutter, "das ist nicht gesund."
"Mhm." Irgendeiner muss ja zuhören, wenn der andere zwanzig Minuten lang quatscht. Mein Kopf ist vernebelt, mein Magen steht quer. Das ist nicht gesund.
Die Höflichkeit gebietet es eigentlich, dass man am Tisch sitzenbleibt, bis alle fertig sind, aber in diesem Setting hat die Erfahrung gezeigt: Wenn ich sitzen bleibe, wird es noch sehr viel länger dauern. Also stehe ich auf und gieße die Pflanzen auf dem Balkon. Die sind angenehm schweigsam, und so wird das Zimmer gleich durchgelüftet.  Ich bleibe noch für ein paar Minuten in Reichweite, und kann schon mal das Blumengießen auf meiner täglichen ToDo-Liste abhaken, bevor Geschirrspülen dran ist.
"Keiner kennt Louis Armstrong!", ruft meine Mutter, während ich die Küche aufräume. Nein, du kriegst mich nicht, auch nicht mit Louis Armstrong. Ich gehe jetzt an den Computer und mache die Tür hinter mir zu. Bis zum Abendessen habe ich Zeit, meine Nervenbatterien wieder aufzuladen. In der nächsten Gesprächsrunde wird es um Das perfekte Hochzeitskleid - Zwischen Tüll und Tränen gehen. Ob die unmögliche Mütze und der schreckliche Bart meines Bruders dabei erneut zur Sprache kommen, hängt davon ab, ob irgendein Bräutigam im Fernsehen falsch frisiert oder unpassend gekleidet ist. Wahrscheinlich ja. Vielleicht sollte ich vorsorglich einen Schnaps zum Nachmittagskaffee nehmen. 😖

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Um einen visuellen und akustischen Eindruck von den singenden Saxofonen zu bekommen: Hier geht's zu Youtube. Achten Sie auf die grüne Gitarre! ProbeleserInnen dieses Artikels haben sich explizit für diesen Hinweis bedankt und mich sogar danach angerufen!

Falls Sie wissen wollen, was ich mir anschaue, wenn ich mich von Fahrstuhlmusik erholen muss, dann klicken Sie auf dieses Musikvideo, ebenfalls bei Youtube. Vertrauen Sie mir: Dieser Song hat 306 Millionen Aufrufe seit 2016 eingefahren. Die singenden Saxofone haben es seit 2013 auf 620.000 Klicks gebracht. 😏

Siehe auch: Sommerkonzert, Unisono, Hoppala..., Hausmittel, Donnerstag, Freitag, Alltag; Wetter, Fußball und Champagner, Heute ist wieder so ein Tag, Pornopapst, Das N-WortFinstermond, Wenn Unbeteiligte beteiligt sind, Zombie!?, Im Dienst, Musikantenstadl, Quintparalleluniversum, Musik liegt in der Luft, Blinded By The Light, Überrasching, Tondichter vereint, Allein allein?, Überfällig, Michelangelos neuester Hit, Rückzugsorte

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