Freitag, 9. Dezember 2022

Donnerstag, Freitag, Alltag

Apothekenstillleben mit Hundschuh
#Muttergeschichten
 

Alte, pflegebedürftige Menschen sind ein Bombengeschäft für die Pharmaindustrie, und gleichzeitig wirken diese ganzen Mittelchen de facto lebensverlängernd. Ohne tägliche Zufuhr wäre nicht nur der Blutzuckerwert meiner Mutter dramatisch, sondern vermutlich längst ein zweiter Schlaganfall aufgetreten.

Ihre Pillen will die Mutter eigentlich nicht nehmen, tut es aber mir zuliebe. Sagt sie jedenfalls. Als ich  im November selber zehn Tage krankheitsbedingt ausgefallen war, gab es diesbezüglich wohl eine Diskussion mit dem Pfleger.
"Du weißt ja gar nicht, ob ich die Tabletten wirklich nehme, oder ob ich sie ins Klo schmeiße", erklärte meine Mutter trotzig.  Ach so? Könnte diese Geschichte mit der Kaffeetasse neulich auf dem Umstand beruhen, dass die Mutter ihre Medikamente nicht genommen hatte?
"Pass bloß auf", warnte ich, "wenn die vom Pflegedienst das mitkriegen, bleiben sie neben dir stehen, bis du die Pillen wirklich runtergeschluckt hast."
"Jaja", winkte sie genervt ab, "wie in der Klinik. Da sind sie auch nicht weggegangen, bis alles weg war. Die haben sich vor mich hingestellt und zugeschaut!", fügte sie empört hinzu. 
Es dauert wirklich lange, bis sie ihre Tabletten nimmt, aber irgendwann liegen sie nicht mehr auf dem Tisch. In ihrem Tischabfalleimer habe ich noch keine gefunden, und Hosen- oder Jackentaschen hat sie nicht an ihrer Kleidung. Okay, ich könnte ihren Mercedes (Rollator) mal genauer inspizieren. Was da alles im Korb und auf der Ablage liegt... säuberlich sortiert, denn meine Mutter ist sehr ordentlich. Mir würde es trotzdem nicht auffallen, wenn sie die Pillen dort irgendwo zwischenlagert, so ein Kontrolletti bin ich nicht, und Taschenkontrolle ginge gar nicht.
Als Verfechterin des Prinzips Selbstverantwortung stoße ich bei meiner alten Mutter oft an Grenzen, so war sie schon immer, aber unsere Rollen haben sich mittlerweile verändert. Die Ansage kommt immer häufiger von mir, nicht von ihr. Dann sitzt eine vermutlich Achtjährige im Omasessel, die nicht mitspielen will, und manchmal trotzig oder gar wütend mit dem Fuß auf den Boden stampft - so gut das eben geht, wenn man kaum noch Kontrolle über die Muskulatur hat... Also wird verbal gekämpft:
"Nein, nein, nein, nein, NEIN!"
"Doch!" ist meistens keine gute Antwort. 

Bei einem Charakter, der schon als Kind den Pfarrer zur Verzweiflung getrieben hat, sind ausgefuchste Vermeidungs- oder Ablenkungsstrategien keinesfalls abwegig: "Ich bin doch  nicht blöd", ist einer ihrer Lieblingssätze, und mit Hinterlist ist zu rechnen.
Vielleicht wickelt meine Mutter ihre verhassten Pillen in eins ihrer tausend Papiertaschentücher, und setzt sich drauf, bis sie ins Bad geht. Was hinter der verschlossenen Tür vor sich geht, kontrolliert vorerst niemand, wir sind ja noch bei Pflegegrad 3.
Die Mutter ist stur, aber bei klarem Verstand, und wenn sie ihre Tabletten nicht nimmt, werde ich sie ihr nicht gewaltsam in den Mund schieben. Ich weiß genau, warum sie nicht in eine Seniorenresidenz will. Dabei würde sie dort bestimmt sehr lustige Geschichten erleben und selbst in Gang bringen, aber Privatsphäre ist ihr wichtig. Sie hasst es, wenn jemand vom Pflegedienst nachschaut, was auf dem Servierwagen oder welches Parfüm auf dem Nachttisch steht. "Die Leute machen ihren Job", sage ich dann, aber das überzeugt sie nicht.
"Das geht die gar nichts an!", tobte sie, und beim Parfüm, das eine Pflegerin wohl auch mal ausprobiert hatte, gebe ich ihr absolut Recht. Es ist eine Gratwanderung, und ich kann und will nicht alles selber machen. Da gibt es immer wieder Unzufriedenheit und Konfliktpotenzial.
Das Stichwort Privatsphäre war jedenfalls bestens geeignet, meine Mutter über das neue US-Patent zu informieren: Tabletten mit einem integrierten Mikrochip, die bei Kontakt mit der Magensäure an einen Sensor melden, dass sie wirklich geschluckt wurden, und die Daten automatisch in die Cloud hochladen. Das ist kein Witz, das ist Innovation, und in den USA bereits zugelassen. Das ist die beste Medizin für Vergessliche und Tablettenverweigerer - von Nebenwirkungen reden wir mal nicht.
"Wart's ab, das kommt hier bestimmt auch noch", sagte ich. "Das ist alles nur eine Frage der Zeit."
Meine Mutter winkte ab. "Ob ich das noch erlebe!", und dann kam wieder der für sie so typische Themawechsel: "Wir haben lange keinen Schnaps mehr getrunken."
Dieses hochprozentige Universalmedikament hatte ich seit meinem ersten und bisher einzigen Kurzurlaub im August streng rationiert oder gar nicht erst ausgegeben. Das schont nicht nur die Leber, sondern auch die Haushaltskasse. Wenn die Mutter am nächsten Tag reklamiert, berufe ich mich auf meine eigene Vergesslichkeit. In Wirklichkeit muss ich anhand des Speiseplans abschätzen, ob sie ihr Hausmittel verträgt, und wenn ja in welcher Dosis.
An unserem Tablettendiskussionstag hatte es mittags Sauerkraut gegeben. Das mag sie und hatte es bisher immer gut vertragen. Diesmal entfaltete es seine abführende Wirkung deutlich schneller als sonst. Im Bad ging alles gut und fast nichts daneben, aber es war definitiv nicht der beste Moment, um weitere Abführmittel zu verabreichen. Ich vertröstete meine Mutter auf morgen, und wenn sie es vergäße, wäre es auch nicht weiter schlimm. Die Erfahrung hat gezeigt: Bei so etwas hat sie ein ausgesprochen gutes Gedächtnis. Das reicht bis übers Wochenende, aber ich habe wenigstens zwei Tage Pause, um mich zu erholen, bevor ich am Montagmorgen den geballten "Was der Pflegedienst alles (nicht oder falsch) gemacht hat Bericht" entgegennehme. Den Spülkasten muss ich vor Weihnachten auch unbedingt nochmal warten.

Siehe auch: Kundenorientierung oder: Wenn Blicke töten könnten, Hausmittel, Heute ist wieder so ein Tag, Zippi-Zappi, High Noon, Finde den Fehler, Welches Schweinderl hätten S' denn gern?, Unisono, Hoppala..., Pornopapst, Heute schon gezaubert?, Sendeschluss, Finstermond, Schwammerlsarg, Wieviele Finger sind das denn?, Wetter, Fußball und Champagner, Wenn Unbeteiligte beteiligt sind, Fußstapfen

Weiterführende Links

  • Tablette meldet, dass sie eingenommen wurde - Spiegel.de


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