Freitag, 10. Dezember 2021

Kundenorientierung oder: Wenn Blicke töten könnten

Die Hausärztin hat meiner Mutter neue Medikamente verschrieben, weil sie bei der Einnahme ihres Cholesterinsenkers immer husten muss (bekannte Nebenwirkung), und weil sie für den entwässernden Blutdrucksenker eine temporäre Ergänzung braucht. Ich muss also nochmal in die Apotheke und das Zeug abholen. 

Es gibt drei Kassen, zwei sind besetzt, und ich merke schnell: Das dauert. Es dauert fast immer, wenn ich in dieser Apotheke irgendetwas brauche, selbst wenn ich die einzige Kundin im Laden und sofort dran bin. Das stets wechselnde Personal, und es ist erstaunlich zahlreich,  gibt zunächst mit ernstem Blick die Rezeptinformationen in den Computer ein. Danach verschwindet es in den Untiefen der Nebenräume. Ich weiß nicht, wie dieser Laden seine Lagerbestände verwaltet und verstaut, aber es muss aufwändig sein. Die machen alles zu Fuß? Ich glaube an diesen Nebenraum schließen sich noch diverse Kellergewölbe an, anders lässt es sich nicht erklären, dass es jedes Mal so lange dauert, bis sie mit der Ware zum Tresen zurückfinden.

Wenn sie nach gefühlten Stunden von ihrer Mission zurückkehren, scannen sie die Barcodes der Verpackungen ein. Schweigend und hochkonzentriert starren sie dabei auf ihren Monitor. Ich glaube sie sind mit Timm Thaler verwandt, der sein Lächeln bekanntlich verkauft hatte. Während sie in ihre wichtige Arbeit vertieft sind, vergessen sie manchmal die Kundenkarte einzuscannen, die ich zusammen mit den Rezepten hingelegt habe. Oft haben sie nicht gehört, oder schon wieder vergessen, was ich bei Übergabe der Dokumente mitgeteilt hatte. Zum Beispiel: Das sind zwei Rezepte, eins geht auf die Kundenkarte meiner Mutter, das andere ist für mich. Bitte separat abrechnen. Nein. Ah, Storno und alles nochmal von vorne. Aber das auch wieder nur, nachdem eine in der Rangordnung höherstehende Person aus den nebenräumlichen Untiefen herbeigerufen wurde, weil die Mitarbeiterin am Tresen entweder nicht stornobefugt ist, oder weil sie nicht weiß, welchen Knopf sie an der Kasse hätte drücken müssen. Und herrje, die Rechnung für den Kartenleser war auch schon im System... Das muss separat rückgängig gemacht werden. Was lernt man eigentlich im Pharmazie-Studium? Kundenservice definitiv nicht.

Der Laden verursacht bei mir regelmäßig unhörbare Schreikrämpfe, eine Implosion der Verzweiflung, weil ich mich jedes Mal frage: Leute, wo habt ihr euren Kopf, und wo bitte kann man bei euch mal den Turbo anwerfen!? Wieso kann man diesen ganzen Ich-hole-nur-ein-Medikament-auf-Rezept-Vorgang nicht digitalisieren und einen Automaten hinstellen? Der wäre vermutlich freundlicher, es ginge einfacher und schneller, und man könnte die Personalkosten für wandelnde Zombies sparen.

Ich stehe also brav in der Warteschlange und warte. 

Draußen schneit es, und ich bin flotten Schrittes zum Tempel der Gesundheit marschiert. Meine Mutter wartet auf ihr Frühstück. Jetzt, in der Wärme, fängt meine Nase unter der Maske an zu triefen. Ich will nach Luft schnappen, aber das geht ja nicht. Um mich abzulenken, beobachte ich die Lage der Dinge im Raum. Wird das Digitalisieren eines Impfausweises an Kasse eins länger dauern als die Ausgabe eines Medikaments an Kasse drei? Was ist mit der kleinen asiatischen Frau, die sich links vor mir auf den Wartestuhl gesetzt hat, und mit leeren Augen den Boden starrt? Ist die noch vor mir dran, oder gehört sie zu einem der Herren, die an Kasse eins und drei auf die Bearbeitung ihrer Anliegen warten? Sie sitzt da wie eine Schaufensterpuppe, ich kann also nicht einschätzen, worauf sie wartet.

Direkt neben meinem mit einem X auf dem Boden markierten Wartepunkt ist eine dritte Apotheken-Mitarbeiterin mit der Aufgabe betraut, ein Regal einzuräumen. Der Raum ist schmal, ich kann die anderthalb Meter Abstand zu ihr gerade einhalten. Kasse zwei wäre noch frei, zwei Personen warten auf ihre Abfertigung, das Regal könnte man später auffüllen, und derweil - serviceorientiert - auf die im Raum wartenden Menschen eingehen?! Pustekuchen. Wir sind irgendwie unsichtbar.

Die junge Dame wirkt auf mich wie eine Schlafwandlerin. Verträumt und geistig abwesend wandelt sie mehrmals mit ihren Creme-Döschen zwischen dem zu bestückenden Auslageregal und dem Tresen hin und her. Sie prüft akribisch ihre Warenliste, nimmt jedes Mal ein einzelnes kubusförmiges Päckchen, und schreitet damit elfengleich erhaben zurück zum Regal, um die Auslage mit ihren Würfelboxen zu dekorieren. Es ist durchaus faszinierend sie zu beobachten. Kunden in der Warteschlange sind kein Anlass, um sich aus dieser tiefen, und wirklich innigen Dekorations-Meditation zu lösen. Ich schaue die junge Frau an, aber ihr Blick geht durch mich hindurch, weit in die Ferne. Sieht sie dort eine instagrammable Beauty-Warenauslage? Vielleicht sollte ich die Maske abnehmen. Würde sie mich dann zur Kenntnis nehmen, und sei es nur, um mich an die Maskenpflicht zu erinnern?

Gerade als ich über diesen verwegenen Schachzug nachdenke, kommt Bewegung in den Laden: Die Asiatin springt auf wie von der Tarantel gestochen und rennt zu Kasse eins. Ich jubiliere innerlich, die beiden gehören zusammen! Die Digitalisierung des Ausweises - es waren offensichtlich zwei -  scheint sich dem Abschluss zu nähern. Gleichzeitig kehrt eine Mitarbeiterin aus dem Nebenraum zurück an Kasse drei. Zeit für eine interne Wette: Wer wird das Rennen machen? Ha! Das Medikament an Kasse drei ist überreicht, jetzt noch den Kassenbon... und bitte ... ahhh, was für eine Erleichterung: Keine stundenlange Belehrung am Tresen, wie das Medikament einzunehmen sei. Die meditative Würfeldame ist immer noch dabei ihre Warenliste mit dem Kleingedruckten auf den Päckchen abzugleichen.

Kasse drei wird in wenigen Sekunden frei, ich gehe in Hab-Acht-Stellung. Auf die Plätze, fertig: Meine Rezepte, die Kundenkarte, den Befreiungsausweis - alles habe ich schon in der Hand, seit ich den Laden betreten habe. Ich warte artig ab, bis der Kunde an mir vorbei ist - nur 1,20 Sicherheitsabstand! Foul, Foul! Ich halte den Atem an. Bin ich jetzt in Gefahr, oder dieser Mann? Nein, ich bin gesund. Ich hole ja nur Medikamente für meine Mutter... Niemand hat das Foul bemerkt. Ich atme erleichtert auf und eile zum Tresen. Dort blättere ich alle benötigten Dokumente hin, gut aufgefächert, wie beim Poker, triumphierend: Full House! Gleich bin ich am Ziel, denke ich hoffnungsfroh.

Den Ablauf kenne ich: Rezepte erfassen, den Blick starr auf den  Monitor gerichtet. "Das Medikament haben wir nicht vorrätig", schallt es mir entgegen. In einem flötenden Ton legt die Mitarbeiterin nach: "Reicht es Ihnen, wenn wir es bis mittags bestellen?"

Was für eine Frage. Ich jaule innerlich auf. Das Medikament hätte ich zum Frühstück geben sollen, das klappt sowieso nicht mehr. Also nochmal die gleiche Prozedur, bevor ich das Mittagessen koche? Dazu die Winterklamotten anziehen, durch den Schneematsch latschen und anschließend den Flur wischen!?  Oder doch lieber abends auf dem Heimweg? Dann muss ich früher los, damit ich es vor 18:30 Uhr schaffe. Die alte Mutter muss dann eben früher ins Bett. Im Winter geht das, es ist eh finstre Nacht, da merkt sie es nicht so wie im Sommer. Die Erfahrung hat gezeigt: 18:25 Uhr ist ein guter Zeitpunkt. Da wollen die MitarbeiterInnen nach Hause, da geht alles viel schneller. Vorausgesetzt es stehen nicht fünf Leute vor mir in der Schlange, die ihre Booster-Impfungen digitalisieren lassen wollen.

"Sie wissen, wie Sie das Medikament einnehmen ..."  

"Ja", knurre ich.

Wozu habe ich gerade eine Kundenkarte und einen Befreiungsausweis hingelegt? Sind das vielleicht latente Hinweise darauf, dass ich in diesem Saftladen möglicherweise Stammkundin bin? Sehe ich aus wie jemand, der 1938 geboren ist? Ach so, die Maske. Und einen Hut habe ich heute auch noch auf, weil es schneit. Im Spalt zwischen der schwarzen Hutkrempe und meiner schwarzen FFP2-Maske sieht man nur meine Augen, und die müssten, wenn man in sie hineinschauen würde, deutlich signalisieren: Diese Kundin ist genervt. Augenkontakt ist in diesem Moment genauso gefährlich wie Händeschütteln oder Husten. Wenn ich Superman wäre, hätte ich Augen mit Laserfunktion. Damit kann man Metall schneiden und Feinde töten. Ich würde damit erst mal den Computer der Apotheke pulverisieren, und die kubusförmigen Cremepackungen gleich mit dazu. Vorsichtshalber senke ich den Blick, damit nicht aus Versehen ein Unheil geschieht. Ich kann auch total nett sein, und ich weiß, dass es genauso aus dem Wald heraus schallt, wie man in ihn hineinruft. Ich muss mich einfach nur ein bisschen besser beherrschen, und jedes Mal aufs Neue mit frohem Optimismus in die Apotheke gehen ... um hinterher das gleiche zu erleben. Mein Frust sitzt tief. Das sollte ich vielleicht mit meinem Analytiker besprechen?

Die Mitarbeiterin schiebt mir die Schachtel mit dem neuen, hoffentlich hustenfreien Cholesterinsenker über den Tresen, die Kasse muss noch den Abholzettel drucken. Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, hurra! Endlich kann ich raus an die frische Luft, mir die Maske vom Gesicht reißen und die Nase putzen. Ich glaube bei mir entwickelt sich gerade eine Apotheken-Allergie. Kann ich mich dagegen impfen lassen?

Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass die elfengleiche Dekorateurin immer noch völlig entrückt ihre Schächtelchen ins Regal stellt, millimetergenau ausgerichtet. Ich bin gespannt, ob sie bis heute Abend damit fertig ist. 

Doc Morris würde mir die Medikamente per Post schicken und sich rasend über die neue Stammkundin freuen. Aber leider dürfen Medikamentenlieferungen nur persönlich übergeben werden. Das wiederum ist ein Problem, denn meine gehbehinderte Mutter kann dem Paketboten die Tür gar nicht öffnen. Wenn einmal monatlich die Inkontinenzprodukte per DHL geliefert werden, ist die Kiste so groß wie ein Umzugskarton - ich muss vor Ort sein, wenn der Postbote dreimal klingelt. Was passiert, wenn das Timing bei diesen Lieferungen nicht klappt, erfähren Sie ein andermal in der Rubrik: "Leider konnten wir Ihre Sendung nicht im gewünschten Zeitfenster zustellen".

#Muttergeschichten  #PflegendeAngehörige 

Siehe auch: Heute ist wieder so ein Tag, Zippi-Zappi, Unisono, Hoppala..., Moment, sieht der nicht aus wie..., Pornopapst, Laubbläser im Wind, Aussitzen, Wir wollen Sie gesund, Donnerstag, Freitag, Alltag, Relax, Fußstapfen, Appsala, Tief durchatmen...

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