Dienstag, 7. Dezember 2021

Zellstoffjunkies

 

Als ich ein kleines Kind war, gab es diese tollen Papiertaschentücher noch nicht. Entweder kannte meine Mutter sie nicht, oder sie waren ihr zu teuer? Es gab ja Stofftaschentücher! Ja, igitt. Aber so war das - es war das traditionelle Gegenstück zur Stoffserviette. Nach mehrfachem Gebrauch landeten diese anachronistischen Taschentücher in der Waschmaschine, anschließend wurden sie gebügelt, und ich bekam sie wieder in den Kindergarten oder in die Schule mit. Nach vielen Jahren Ekeltraining zogen auch in unserem Haushalt die Päckchen von Tempo oder Ja! ein, die Softies, und wie sie nicht alle hießen und heißen. Anfangs bekam man die Packungen nur schlecht auf, bis endlich die wiederverschließbaren Zehnerpacks Standard wurden. Die Verpackungen waren immer noch potthässlich, aber praktisch, und das Produkt an sich ist definitiv hygienischer als es die alten Stofftücher jemals sein konnten.

Irgendwann kam jemand auf die Idee, dass man die Verpackungen von Wegwerftüchlein nicht nur mit Firmenlogos und Werbung bedrucken, sondern auch ein bisschen hübscher gestalten könnte. Und voilà, heute achte ich beim Einkaufen auf ein halbwegs hübsches Verpackungsdesign. Das ist umso wichtiger, wenn die Päckchen in der Wohnung herumliegen. Mitunter sind es kleine Kunstwerke, die nach bestimmungsgemäßem Gebrauch des Inhalts in die Mülltonne wandern. Wahrscheinlich gibt es Leute, die so etwas sogar sammeln. Achten Sie einmal auf die "Limited Edition" Ausgaben im Drogeriemarkt, besonders beliebt auch zur Weihnachtszeit!

Als Heuschnupfen-Allergikerin war es für mich jahrelang überlebensnotwenig, stets zwei oder drei Päckchen Papiertaschentücher in Rucksack, Handtasche oder im Fotorucksack griffbereit zu haben. Diese Zeiten sind vorbei: Seit einigen Jahren habe ich kaum noch Schnupfen, darum hält so ein 18er-Vorratspack mitunter ein Jahr oder länger. Für mich sind saisonale Designs also blöd. Wenn man nicht mit der Mode geht, dann sollte man wenigstens mit der Zeit gehen. 😏

Mittlerweile ist Winter, es hat geschneit. Mein Vorrat aus der Summertime erzeugt nun so etwas wie leise Wehmut: Irgendwie habe ich diesen Sommer verpasst, die wirklich schönen und warmen Tage waren rar. Ein Motiv suggeriert mir, dass ich im Strandurlaub sein müsste. Wenigstens stimmt das mit der Kamera. Wenn ich das Eiswaffelmotiv auf der Packung sehe, muss ich jedes Mal an eine Freundin denken, mit der ich vor dem unvermeidlichen Wintereinbruch noch einmal zusammen Eis essen gehen wollte. Es war entweder zu kalt, oder wir hatten nicht zur selben Zeit frei. Jetzt hat die Eisdiele Winterpause, bis März 2022. Dann darf ich vielleicht wieder hin, ohne mir vorher ein Teststäbchen in die Nase zu bohren? Momentan ist auf nichts Verlass, und das nagt an meinem Seelenkostüm.

Die vielen, meist versehentlich verlorenen Gesichtsbedeckungen, die seit Beginn der pandemischen Maskenpflicht am Wegesrand landen, sind ein weiteres Novum im Kreislauf der Hygienemaßnahmen. Vor ein paar Jahren haben wir beim Anblick von Straßenszenen in Japan noch verständnislos den Kopf geschüttelt, oder über Michael Jackson gelacht. Menschen mit Masken vor dem Gesicht waren für uns durchgeknallte Typen mit einer nicht nachvollziehbaren Angststörung. Dabei gibt es so viele Dinge, die sich in unserem Alltag etabliert haben, weil sie uns das Leben erleichtern.

Mehr als zwei Milliarden Erdbewohner sind weltweit nicht mit sauberem Trinkwasser versorgt, mehr als vier Milliarden haben keinen Zugang zu Toiletten. Mehr als zwei Milliarden Menschen leben weltweit noch immer ohne sauberes Trinkwasser. Die Zahlen besserten sich. Gut sind sie nicht. (18.06.2019)

Wir haben Glück und Pampers für die Kleinsten, Hygieneprodukte für die Frau, und sogenannte "Panties" fürs fortgeschrittene Alter jedweden Geschlechts. Schauen Sie mal diskret in die Supermarktregale. Erweitern Sie Ihren Horizont jenseits von bunten Servietten, nützlichen Kleenex-Rollen und unverzichtbarem Klopapier. Sie werden staunen, was es da alles gibt - sogar beim Discounter Penny. Denken wir nicht an den Müll, denken wir an Hygiene, und behalten wir die Alterspyramide im Blick. Da kommt noch einiges auf uns zu.

Die Welt befindet sich permanent im Wandel. Ein leider schon verstorbener Psychologe prägte den markanten Satz: Entwicklung geschieht langsam und in Sprüngen. Momentan springen wir im Dreieck: Wo werden wir landen?

Die Schutzmasken werden uns voraussichtlich bleiben. Schon jetzt kenne ich Menschen, die auch nach Ende der Pandemie nur noch mit Mund- und Nasenschutz Bus und U-Bahn fahren wollen, wie in Asien, auch wenn es (vielleicht) irgendwann nicht mehr vorgeschrieben ist. Ich wäre schon dankbar, wenn es niemanden mehr gäbe, der beim Joggen aufs Trottoir spuckt. Und so verändern wir die Welt, jeden Tag, mit kleinen, mitunter unscheinbaren Schritten. Da sage noch einer, wir seien machtlos! Treten Sie einen Hamsterkauf los, und schon bricht die Lieferkette zusammen. Also bitte: Es ist genug für alle da. Wann haben Sie sich zuletzt von einem netten Nachbarn ein Ei oder ein paar Scheiben Brot geborgt? Ne, unhygienisch, oder? Das ist auch nicht nötig, wenn Amazon fresh in einer Stunde alles liefert, oder wenn ein Supermarkt, ein "Sonntagsbäcker" oder eine Tankstelle um die Ecke sind. Ich habe aber auch schon mal jemanden hier in München mächtig jammern hören, weil er abends um neun nicht mehr einkaufen gehen konnte.

Wie hieß es vor ein paar Jahren? "Der Wähler entscheidet an der Supermarktkasse, welche Welt er haben möchte." Jou, Basisdemokratie. Ich kaufe jetzt einen Vorratspack Taschentücher in der "Winter-Edition". Beim Rohstoff Holz, der Basis aller Zellstoffprodukte, gibt es derzeit Engpässe. Oder hat sich das schon wieder beruhigt? Ich muss nachgucken. Ist aber auch schwierig, mit allem ständig auf dem laufenden zu bleiben. Als die ersten recycelten Taschentücher auf den Markt kamen, kaufte ich umweltbewusst - dummerweise bekam ich von den grauen Altpapier-Taschentüchern ganz üble Hautausschläge.

Sogar die Wahlentscheidung an der Supermarktkasse erfordert permanent krasses Sich-Informieren. Dabei hatte ich gedacht, es würde dank Internetz einfacher werden. Gut, dass es Profis gibt, die heute schon Themen voranbringen, die uns morgen beschäftigen werden. Wir sind in guten Händen: Hier und hier. Hach, da kommen mir die Freudentränen - ich brauche ein Taschentuch. Oder doch lieber einen Asbach Uralt? Sind Sie genauso hin und hergerissen wie ich, genauso überfordert? Es wird schon jemand kommen, der uns sagt, was richtig ist. Oder ist das auch wieder nicht recht? 😉

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