Samstag, 7. Juni 2025

Pillenrevolte

27 mm | 1/25 s | f1,6 | ISO 400 | Smartphone
 #Pillendosis #nachgereicht
#Muttergeschichten  #Pflegeheim

Damit Sie sich an der Geschichte aus der zurückliegenden Redaktionskonferenz erfreuen können, bevor schon wieder die nächste ansteht, habe ich in mein altes Homestory-Bildarchiv gegriffen. So sah es einmal in der Woche im Mutterhome aus, wenn ich die Medikamente für meine Mutter aus den Blisterverpackungen in die Pillenbecher umgefüllt habe. Warum das, und warum ich?

Normalerweise verabreicht der Pflegedienst die Medikamente, und anfangs bekamen wir jedes Medikament in der typischen Form, die Sie auch kennen: Jeweils eine Papppackung, gefüllt mit flachen Blistern, aus denen man sich die benötigte Pille jeweils einzeln herausdrückt und zu sich nimmt. Ich kenne Leute, die jeden Tag mehr als zehn verschiedene Tabletten einwerfen müssen, und sich deshalb diese praktischen Wochenboxen zugelegt haben, mit Fächern für Montag bis Sonntag, jeweils morgens, mittags, abends und nachts... Der Papst hat die Vorhölle zwar abgeschafft, aber Reste davon existieren in Form der Medikamentenvergabe weiter. 😈

Je mehr Medikamente jemand verordnet bekommt, desto aufwändiger und fehleranfälliger ist die Portionierung. Als der Pflegedienst die individuell vorportionierten Einwegverpackungen einführte, die schon in der Apotheke für jede/n Pflegebedürftige/n zusammengestellt und angeliefert wurden, war das zwar ein Haufen extra Plastikmüll, aber eine unendliche Erleichterung im #Pflegealltag.

Unpraktisch an dieser Neuerung war nur, dass meine Mutter diese kleinen zugeklebten Behältnisse alleine nicht öffnen konnte. Sie sind kleiner und schwerer zu greifen, darum fielen sie meiner Mutter oft aus der Hand, und die Tabletten landeten auf den Boden. Dann rollten und hüpften sie irgendwo hin, und mussten entweder von mir unterm Tisch krabbelnd gesucht werden, oder wurden vom Staubsauger vertilgt. 
Die Plastikbecher konnte meine Mutter mit ihren gefühllosen und immobilen Händen von Anfang an gut greifen, und vergleichbare (wiederverwendbare) Becher gibt es jetzt auch im Pflegeheim. Und so sitzen die alten Herrschaften zusammen im Speiseraum, jeder mit einem andersfarbigen Pillenbecherlein, damit auch nichts durcheinander gerät. Es sei denn...

"Darf ich erzählen, wie du neulich nach dem Essen aus der Küche gekommen bist?", fragte die Mitbewohnerin meiner Mutter, als wir unsere Redaktionskonferenz im Zimmer abhielten. "Du warst völlig von der Rolle", fügte sie hinzu. Was war geschehen? 

Frau B., die Bewohnerin, die bei den Mahlzeiten neben meiner Mutter sitzt, war hochgradig verärgert. 😡 Irgendeine der Pillen, die Frau B. regelmäßig nehmen muss, sah nicht mehr so aus wie früher, und daran konnte in ihren Augen irgendetwas nicht stimmen. 
Diese Situation kannte ich aus dem eigenen Pflegealltag, denn ab und zu kam das gleiche Medikament in einer etwas veränderten Pillenform, zum Beispiel oval statt rund, Inhalt derselbe, sieht aber anders aus. Auch meine Mutter hatte solche Veränderungen bemerkt, mich darauf angesprochen, und als General war es dann meine Aufgabe, die Hintergründe zu verstehen und meiner Mutter zu erklären, dass niemand einen Fehler gemacht oder die Absicht hatte, sie zu vergiften. 😨 Dafür braucht man Zeit und Kommunikationsgeschick, beides ist im Pflegeheim nicht immer verfügbar. 

So wie ich den Mutterbericht verstanden habe, weigerte sich Frau B., ihre Tabletten zu nehmen, und entsorgte sie kurzerhand in der Suppe ihres Tisch-Gegenübers, Herrn X. Wie der auf diese Aktion reagiert hat, habe ich entweder vergessen oder es war nicht so relevant, weil Herr X. mit seiner Suppe schon fertig war, und die Suppenschale von sich geschoben hatte.
Meine Mutter wiederum, die artig ihre Tabletten nimmt, sortiert selbige vor der Einnahme fein säuberlich der Größe nach auf dem Tisch. Sie war bereits total entrüstet, als die Pillen von Frau B. vor ihren Augen in der Suppe von Herrn X. gelandet waren. 
"Stell dir vor, der isst das! Das sind doch gar nicht seine Pillen!", erzählte sie, ganz aufgewühlt. Doch damit nicht genug. 

Mit einer überraschend schnellen Handbewegung ergriff Frau B. anschließend die von meiner Mutter bereitgelegten Tabletten, worauf meine Mutter mit einem unmittelbaren und lauten "Heee!!" reagierte, aber es ging alles viel zu schnell. 
Frau  B. hatte die Tabletten meiner Mutter bereits in einem noch mit Flüssigkeit gefüllten Schnabelbecher versenkt, also in den engen Schnabel des Bechers gesteckt. Zu wem dieses Utensil nun wieder gehörte, ob es der Becher meiner Mutter, der von Frau B. oder Herrn X war, habe ich entweder nicht mitbekommen, oder vor Erstaunen über den Bericht vergessen. Im sonst so schweigsamen Speisesaal entstand Aufruhr, und meine Mutter war völlig von der Rolle. 
"Was machst du da?!", schnaufte sie verstört, "das ist das reinste Irrenhaus!"

Die eilig herbeigerufene Pflegekraft öffnete den Schnabelbecher, in dem sich die Pillen in klebrig-nasse Schwimmtiere verwandelt hatten, und spurtete los, um neue zu holen. Alles Vorgänge, die  der Unruhestifterin Frau B. letztendlich nicht zum Vorteil gereichten.
"Die hat jetzt einen Termin beim Plemplem-Doktor", erzählte meine Mutter weiter, und wiederholte ihren Wunsch, selbst mit einem Psychologen zu sprechen. Sie würde gerne wissen, was mit den Leuten los ist, die an einem Tag total freundlich, und am nächsten Tag total gegen den Strich gebürstet sind. Mal reden und lachen sie, dann schweigen und ignorieren sie die anderen. Es ist nicht nur Frau B., es sind auch andere Bewohner, die reihum "ihren schlechten Tag haben". Da ist jeden Tag was los, mit Stimmungsschwankungen und persönlichen Kränkungen, die aus scheinbar nichtigem Anlass entstehen, oder gar nicht nachvollziehbar sind: emotionale Achterbahn. Dazu fast jeden Tag anderes Personal, das sich um alles kümmern muss, von der Pillendosis bis hin zur Streitschlichtung. Heute läuft es gut, morgen schlecht, und in Summe bleibt es eine echte Herausforderung. Gut, dass ich vier Packungen vom very feinen Gebäck geliefert habe - Nervennahrung.

Zumindest die Redaktionskonferenzen sind einigermaßen stabil, und wie ich von den beiden Damen überraschend einstimmig gehört habe, war der unlängst angekündigte Lichtbildvortrag gut. Eingeschlafen ist niemand, erfuhr ich auf Rückfrage, und Teile des Publikums hatten sich mehr Bilder erhofft. Die Biene Maja hatte offensichtlich nur die aufgewecktesten Bewohner zu dieser Veranstaltung geladen. 👴👵👍

Am Pfingstsonntag sind wir in der Cafeteria zum gemeinsamen Mittagessen verabredet, und ich nehme vorsichtshalber ein Notizbuch mit. Jenseits der Pillenrevolte gab es schon beim letzten Besuch weitere Themen, aber ich teile das besser in kleine Häppchen auf... 😅 

Siehe auch: Donnerstag, Freitag, AlltagGebäck, very fein!, Tummidemmi!Kalt! 😉Fußstapfen,  Kundenorientierung oder: Wenn Blicke töten könnten, AussitzenTief durchatmen...AppsalaTreppen/HausLichtdurchflutet#Muttergeschichten 

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