#Muttergeschichten
"Du bist so ein toter Mensch", erklärte meine Mutter kopfschüttelnd.
Wow, diesen Satz musste ich erst mal sacken lassen. Eigentlich fühle ich mich quicklebendig, kann mich in der Sonne aufhalten, und mein Körper wirft einen Schatten. Im Spiegel kann ich mich auch sehen. Somit gibt es viele Anzeichen, dass ich mir dieses verrückte Leben nicht nur einbilde. Zudem hatte ich an diesem Tag die Ergebnisse eines umfassenden ärztlichen Gesundheits-Checks erhalten. Ich bin also nicht nur lebendig, sondern auch in guter körperlicher Verfassung. Keine Anzeichen für psychische Störungen steht auch noch auf dem Zettel. Das ist schon mal gut. Mit "toter Mensch" wollte meine Mutter wohl ausdrücken, dass ich eher still und introvertiert bin, und keinen Lärm mache, wenn ich meine Aufgaben im Haushalt erledige.
In letzter Zeit wird in unseren Gesprächen häufiger deutlich, dass ich nicht so bin, wie meine Mutter mich gerne hätte. Dass wir schlichtweg grundverschieden sind, hatten wir an einem anderen Tag schon einmal erörtert. Was war passiert? Mal wieder das Deutsche Musikfernsehen. 🙀
Meine Mutter ist immer noch krank, sie hustet und krächzt den ganzen Tag, und der Fernseher ist etwas lauter als sonst. Als ich ihr nachmittags zum hustenstillenden Kräutertee die letzten Scheiben ihres heiß geliebten Weihnachtsstollens servierte, wurden im Fernsehen Musikanten vorgestellt, die zusammen an einem Tisch saßen. Nacheinander trug jeder dieser Sänger ein Lied im Ballermann-Stil vor, während die anderen im rustikalen Eichenholz-Ensemble mit Bier und Schnaps verweilten, und eine gesellige Runde bildeten. Das Gesamtkunstwerk war für mich ein Alptraum der Extraklasse, vor allem die Musik war wieder hart an der Grenze zur Folter.
"Das gefällt Dir?", fragte ich, und das war natürlich ein Fehler. Ich hätte sagen müssen: Ja, Mama, das ist toll. Vielleicht hätte sie mir diese Lüge geglaubt, wäre glücklich gewesen, und das Gespräch hätte einen anderen Verlauf genommen.
"DAS ist LEBEN!", rief sie entrüstet.
"Nun ja", sagte ich versöhnlich, "jeder hat von 'Leben' eine andere Vorstellung."
Und so fing ich mir den Zombie-Vergleich ein.
"Du bist immer so zack-zack", fuhr sie fort, "immer Disziplin, immer Arbeit."
Ich dachte schmunzelnd: Hm, von wem habe ich das nur gelernt?
Gleichzeitig wurde mir in diesem Moment klar, dass sie mich gar nicht kennt. Mein wahres Leben findet nicht im Mutterhome statt, auch wenn ich dort viel Zeit verbringe. Richtig ist, dass ich meinen Arbeitsaufwand dort so organisiere, dass ich nicht mehr Zeit mit Kochen und Putzen vertrödle als unbedingt notwendig.
Meine Mutter hätte es gerne, dass ich ihre Unterhaltungsdame spiele, mich stundenlang zu ihr setze, mit ihr trinke, Schallplatten auflege, das Fernsehprogramm kommentiere, und ihren Erzählungen lausche. Als Kind hätte ich mir wiederum eine Mutter gewünscht, die nicht voll berufstätig ist, und die in ihrer Freizeit Zeit mit mir verbringt, anstatt jede Woche die Fenster auf Hochglanz zu polieren, und mit dem Staubsauger mein sorgsam aufgebautes Spielzeuguniversum durcheinander zu wirbeln.
Ihre und meine Verhaltensmuster aus der Vergangenheit erscheinen in der Gegenwart wie in einem Spiegelkabinett, manchmal verzerrt, manchmal glasklar, und manchmal auf den Kopf gestellt. Das ist ein Selbsterfahrungstrip der Extraklasse, und besser als jede Therapiesitzung.
Meine Mutter sucht Ablenkung, denn ihre körperlichen Einschränkungen werden immer präsenter. Sie bräuchte jemanden, der Zeit mit ihr verbringt, und ihre Interessen ehrlich teilt. Für so etwas gibt es Hilfsangebote von Ehrenamtlichen, da habe ich mich schon umgehört. Die Wahrscheinlichkeit, dass meine Mutter gekaufte Gesprächspartner akzeptiert, ist jedoch denkbar gering.
Bei neuen Kontakten ist sie höchst misstrauisch, und erst recht wenn ich diese Leute ins Haus hole. Da befürchtet sie "Gehirnwäsche" und hat schon einige Helfer vergrault, von der Fußpflegerin über die Haushaltshilfe bis hin zu einer Nachbarin, die eigentlich ihre Freundin war.
Leute, die ich mag, sind fürs Mutterhome ungeeignet, und abgesehen vom Pflegedienst gibt es keine anderen. Wenigstens legt mein Bruder legt manchmal Schallplatten auf, und trinkt einen mit, viel zu selten, und den Bart müsste er sich endlich abrasieren. Tja, auf dieser Welt ist eben nichts und niemand perfekt...
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