Sonntag, 14. Mai 2023

Alles Banane?

 #Muttergeschichten

Als ich das Mutterzimmer betrat, sah ich sofort, dass die Pflegekraft den Vorhang nicht richtig beiseite gezogen, und dass sich eine der vier Stoffbahnreihen in den Zweigen des großen Ficus verheddert hatte. Der Vorhang hing schief, aber richtig. Also war meine erste Aktion des Tages das Geraderichten der Vorhangbahnen. Zwei hängen links, zwei rechts, und lassen sich nach Bedarf gegeneinander verschieben oder hintereinander anordnen. Das ist praktisch und platzsparend, aber damit kommt nicht jede Pflegekraft klar. Ich schob die beiden linken Vorhangbahnen ins Eck für freie Sicht auf den Eichhörnchenzirkus auf dem Balkon.
"Das ist verkehrt!", rief die Mutter aus ihrem Sessel heraus, "der andere muss nach vorne, und der hintere ist nicht ganz im Eck."
"Mach ich nachher", sagte ich, und räumte erst mal das Geschirr vom Vortag ab. Der Füllzustand des Kühlschranks signalisierte, dass ich innerhalb der nächsten drei Tage einkaufen gehen musste, und die beiden schnurlosen Telefone brauchten eine frische Akkuladung - Morgenroutine.
"Hast du gesehen?", fragte meine Mutter und zeigte auf den Pulli, der über der Stuhlkante hing. 
"Hängt der auch schief?", mutmaßte ich, obwohl der Pullover aus meiner Perspektive total ordentlich aussah. Ich zupfte ihn halbherzig gerade.
"Der hängt immer noch schief", bekam ich zu hören. 

Ich inspizierte das melierte Strickmuster, das einen schrägen Verlauf hatte.
"Das Muster ist nicht gerade", erklärte ich. "Entweder richten wir den Pullover nach dem Linienmuster aus, dann hängt die untere Kante schief. Oder wir richten den Pullover an den Kanten aus, dann ist das Muster schief."  Ich zupfte nochmal am Pullover, in der leisen Hoffnung, dass sich das absurde Theater in einem Lachanfall auflösen würde, aber diesmal nicht.
Meine Mutter schüttelte genervt den Kopf. "Der hängt immer noch schief."
Wenn sie nicht weiter kommt, wechselt sie das Thema, darauf ist Verlass.
"Ich lerne jeden Tag etwas Neues", erklärte sie nun. "Dein Bruder hat gesagt, dass ich einen Zwang habe. Er hat auch gesagt welchen, aber ich habe mir das Wort nicht merken können. Er sagt, du hast auch einen Zwang", fügte sie hinzu. "Und dein Mann sowieso."
"Ah ja", nickte ich. Großer Rundumschlag, nicht mit mir. Ich atmete tief durch und ging in die Küche. Wasserkocher anschalten, dann höre ich nichts mehr.
"Ja!", rief mir meine Mutter laut hinterher, "du hast einen Kontrollzwang! Ich werde hier den ganzen Tag kontrolliert!"

Ist das so? Oder ist es vielleicht eine sogenannte Projektion? Das bedeutet kurz gesagt, dass man anderen Leuten Dinge vorwirft, die man an sich selbst nicht wahrhaben will. Natürlich muss ich mir einen Überblick verschaffen, was im Mutterhome zu tun ist. Die Pflegekräfte kontrollieren, ob sie ihre Tabletten genommen hat, oder ob genug Getränke auf ihrem Servierwagen stehen. Das ist eben so, aber für meine Mutter ist der Verlust ihrer Autonomie ein nahezu unerträglicher Zustand. Dann legt sie los und nörgelt herum, ich bin der Blitzableiter, und das geht auch nicht spurlos an mir vorbei. Es kostet Kraft, jeden Tag aufs Neue.

Während ich wortlos das Frühstück servierte, texteten mich der Fernseher mit einer Nachrichtensendung von hinten, und die Mutter von vorne gleichzeitig in voller Lautstärke zu - Ohren auf Durchzug schalten. Es war ein guter Moment, um über das Prinzip der Selbstkontrolle zu meditieren. Die ist eine wichtige Eigenschaft. Andernfalls könnte ich Dinge tun oder sagen, die uns den Tag so richtig versauen würden. Manchmal kommt das vor, dann platzt mir der Kragen, und ich halte ihr einen Vortrag. Schweigen ist die andere Strategie.
Manchmal sage ich "Deine Probleme möchte ich haben...", was aber nicht stimmt. Nein, ich möchte nicht an einen Stuhl gefesselt herumsitzen müssen, und den ganzen Tag fernsehen. Ich bin froh, dass ich mich nicht über jeden Staubkrümel aufregen muss. Ich kann aufstehen und rausgehen, wenn ich es nicht mehr aushalte. Meine Mutter kann nur die Knöpfe an der Fernbedienung drücken, oder schauen, was gerade wieder schief hängt.

Als ich den Frühstückstisch eine Stunde später abräumte, hatte sie zum Deutschen Musikfernsehen weiter geschaltet. Irgendein Chor sang vor einer Bergkulisse geistliche Lieder. Ich hatte meine Mutter schon die ganze Zeit lachen gehört. Als ich das Tablett holen wollte, zeigte sie auf den TV-Monitor.
"Bei einem von der Gruppe ist ein Schnürsenkel offen!", rief sie. "Sehen die das denn nicht? Machen die da keine Abnahme mit der Redaktion? Ich muss da die ganze Zeit hinschauen!"
Falls ich wirklich einen Kontrollzwang habe, weiß ich wenigstens woher. Er hilft mir dabei, schiefe Linien in Fotos korrekt gerade zu ziehen, und störende Bildelemente zu erkennen? 😆 Gewisse Ansätze sind durchaus vorhanden. Vielleicht helfen Bananen? Die sollen gut für die Nerven sein, und morgen ist ein neuer Tag. Ich glaube es wird ein langer Spaziergang.

Siehe auch: Endlich...!, Zippi-Zappi, Hoppala...Hausmittel, Donnerstag, Freitag, Alltag; Wetter, Fußball und Champagner, Heute ist wieder so ein Tag, PornopapstFinstermond, Wenn Unbeteiligte beteiligt sind, Zombie!?, Im Dienst, Musikantenstadl, Sendeschluss, Unisono, Schwammerlsarg, Sommerkonzert, Da muss ich ja denken!, 4711: ChatGTP im Mutterhome, Das Wapperl muss weg!, Wintergrillen?, Schneedecke, Ganz okay!?, Touchdown

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