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27 mm | 1/250 s | f1,6 | ISO 50 | Smartphone |
#Stadtmöblierung #Graffiti
#Muttergeschichten #Pflegeheim
So eine Wandmalerei macht doch sofort bessere Laune 😀, auch in einem tendenziell tristen Umfeld, das ich aus diesem Foto bewusst weggeschnitten habe. Heute hängt dichter Nebel über der Stadt, es ist kalt und grau. Die vereinzelte Krähe, die in einem unfassbaren Balanceakt auf dem dünnsten Zweig ganz oben in einer Baumkrone Platz genommen hatte, fand die Aussicht wohl auch nicht reizvoll genug, um länger zu verweilen. Gut, wenn man Flügel hat, und wegfliegen kann.
Entfernt ähnlich war es gestern bei meinem Heimbesuch. Als ich am frühen Nachmittag ins Zimmer kam, war meine Mutter nicht drin. Ihre Mitbewohnerin bestätigte, was ich beim Betreten der Station schon geahnt hatte: Es war Therapienachmittag. Im ersten Raum, der aussieht wie ein modernes Konferenzzimmer, und mit "Bibliothek" ausgeschildert ist, hatte ich von außen durch die gläserne Wand schon eine Gruppe von Seniorinnen und Senioren erspäht. Rund um den großen Konferenztisch wurde anscheinend Memory gespielt, oder so etwas Ähnliches, aber dort war meine Mutter nicht.
Von einer Pflegekraft erfuhr ich den momentanen Aufenthaltsort meiner Mutter: Sie war im "Wohnzimmer". Dieser Gruppenraum ist weitaus kleiner als die Bibliothek, und ein ganz gemütlicher Ess- und Aufenthaltsraum, ebenfalls hinter Glasscheiben. Diesmal waren die Tische zu einem größeren Gruppenarbeitstisch zusammengerückt worden. Es war rappelvoll in der Bude, und es gab irgendwas mit Basteln. Meine Mutter saß mit dem Rücken zur Glaswand in einem Sessel. Mit hochgelagerten Beinen kann man nicht davonfahren, ihr Rollstuhl stand daneben, und sie beobachtete von dort die - vermutlich ergotherapeutische - Bastelstunde.
Ich wusste sofort, was sie von all dem hielt, nämlich gar nichts. Trotzdem blieb ich eine Weile draußen, für sie unsichtbar stehen, um den Ablauf drinnen nicht zu stören. Irgendwie nahm sie mich trotzdem wahr, spätestens als die Therapeutin zu mir nach draußen schaute. Die Aussage "Ihre Mutter ist schon lange weg" und das "Wir haben gerade erst angefangen" der Therapeutin waren zwei etwas widersprüchliche Aussagen aus verschiedenen Perspektiven. Die Veranstaltung sollte noch etwa eine Stunde lang dauern, und die nonverbalen und verbalen Signale meiner Mutter waren eindeutig: "Ich will hier raus!"
Die Rolle des Störers ist für mich ungewohnt, war aber gut für die Erfahrungshorizonterweiterung aller Beteiligten. 😅 "Keiner hat mir etwas gesagt, die haben mich da einfach reingesetzt! 😠" wetterte meine Mutter aufgebracht, nachdem wir sie zu dritt vom Liegesessel in ihren Rollstuhl umgesetzt, und dabei für ziemlich viel Unruhe im Raum gesorgt hatten. Dort war es ja auch ziemlich eng für diese Aktion. Ich weiß nicht, ob ich die Blicke mindestens einer anderen Teilnehmerin richtig gedeutet habe: Möglicherweise wären auch andere dem Therapieangebot gerne entwichen?
Meine Mutter war jedenfalls hochgradig erleichtert, als ich sie zurück in ihr Zimmer schob. Dass ich einen gekühlten Piccolo dabei hatte, um den positiven Befund der Röntgenuntersuchung mit ihr zu feiern, besänftigte ihr Gemüt zusätzlich. Zu dritt stießen wir im Zimmer auf gute Genesung an, eine Sektparty ohne Vollrauschrisiko. 😂 Während wir an den winzigen Gläsern nippten, erkundigte ich mich, was es sonst noch so an Neuigkeiten gäbe.
Nach ein paar Unzufriedenheiten über nicht ordentlich Aufgeräumtes und falsch Hingestelltes, und einer absolut nachvollziehbaren Klage über die alberne Kinderfrisur, die man meiner Mutter morgens auf den Kopf gestylt hatte, folgte ihr wahrhaft euphorischer Bericht über die Faschingsfeier!
"Du bist doch noch dort gewesen!?", staunte ich, erfreut und überrascht zugleich. Cool! 😎
"Ja, ich bin nachmittags raus aus dem Zimmer, aber auf dem Gang war niemand. Die ganze Station war leer, wie ausgestorben", erzählte meine Mutter. "Und dann habe ich Trompetenklänge 🎺 gehört!"
Musik! 🎶
Obwohl ich ihr schon einmal den Weg gezeigt hatte, wie sie mit dem Aufzug zur Cafeteria im Erdgeschoss kommt, konnte ich kaum glauben, dass sie es wirklich getan hatte. Und dann auch noch ohne Begleitung!? Wenn man die Trompetenklänge von unten im vierten Stock hört, kann man sich natürlich gut daran orientieren. In der Cafeteria muss es sehr voll gewesen sein, aber meine Mutter fand oder erkämpfte sich 'einen Platz ganz nahe bei der Band, die alle Schlager aus den 1960er Jahren gespielt hat'.
"Ich kannte alle Lieder!", sprühte sie vor Begeisterung, "und mit meiner dünnen Stimme habe ich laut mitgesungen! Das ging aber nicht lange, weil meine Stimme das nicht aushält", räumte sie bedauernd ein. Der Freude, die sie dabei hatte, hat das anscheinend keinen Abbruch getan. Ich war genauso erfreut wie sie, und meinte, dass ihre Stimme schon wieder käme, wenn sie oft genug singt.
"Gab's auch Kaffee und Kuchen?", wollte ich wissen.
"Einen Faschingskrapfen habe ich gegessen, und dazu eine Tasse Kaffee", teilte sie mir mit, und sie war bis zum Schluss bei der Feier. Mit der Biene Maja hatte sie eine ganze Weile gesprochen, einer ganz netten Frau, der sie ihr unbedingt ein Lob ausprechen wollte, weil sie das Publikum stundenlang wirklich fantastisch unterhalten hatte 👏. Diese Faschingsfeier war also ein Erfolg auf der ganzen Linie, und ein Ereignis, von dem ich leise zu träumen gewagt hatte. 😊🎉🎈🎊👏👍
Dass die betreuenden Therapeuten nun versuchen, meine Mutter auch an andere Erlebnisse "heranzuführen", ist nachvollziehbar, aber wahrscheinlich sinnlos. Basteln und Spiele spielen ist in ihrer Welt dem Kindergarten vorbehalten, nichts für seröse Erwachsene, und zum Spielen hatte meine Mutter in ihrem Leben sowieso nie Zeit. Zum Lesen auch nicht, darum sind das für sie auch im Alter keine relevanten Beschäftigungsalternativen. Sie muss arbeiten, erklärte sie, und auf Nachfrage, was sie denn da in ihrem Zimmer zu arbeiten hätte, sagte sie vollen Ernstes: Aufräumen!
"Ich habe denen schon gesagt, dass ich mitmache, wenn mir etwas gefällt", fasste meine Mutter zusammen, "aber die brauchen nicht denken, dass sie mich überlisten können, wenn sie mich einfach ungefragt in ihre Therapiestunde fahren." 😤
Eigensinnig war sie schon immer, klare Vorstellungen hat sie auch. Jetzt geht es darum, wie sich das mit den äußeren Rahmenbedingungen in Einklang bringen lässt. Auch wenn Fasching ist: Die Frisur auf ihrem Kopf war wirklich so infantil👶, dass es gar keiner Aufforderung bedurfte: ich habe kurzerhand umfrisiert, damit sie wenigstens beim Abendessen aussieht, wie eine seriöse alte Dame. 👵 Vielleicht sollte man ihr als Beschäftigungstherapie einen Arbeitsplatz beim Aufräumkommando anbieten?! 😉
Siehe auch: Vorwärts, Augen-Blicke, #Pflegeheim, #Graffiti, #Stadtmöblierung
Ältere Muttergeschichten: Alles Banane?, Wetter, Fußball und Champagner, Klare Sicht vor Silvester, Fuchs und Hase 2023, Im Dienst, Musikantenstadl, Sommerkonzert
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