Freitag, 18. Juli 2025

Wundertüte

27 mm | 1/500 s | f1,6 | ISO 50 | Smartphone

 #Architektur und  #Wolken  #Spiegelung auf #Lack
#Muttergeschichten  #Pflegeheim

Schönes Wetter ist super, weil ich meine Mutter bei nahezu jedem Heimbesuch in den Garten entführen kann. Dann sitzen wir im Grünen, sie in der Sonne, ich im Schatten, und sie freut sich über unsere ungestörte Quality-Time. Zwischendurch betrachtet und kommentiert sie die schönen Bäume, und wir sehen, wie gerade die knackigen Äpfel an einem Apfelbaum heranreifen. 😋
Seit dem Drag Queen Bingo gibt es keinen Piccolo mehr, und auch kein Picco-lö-chen, jetzt testet sie den Wein. Den trinkt sie nur selten aus, weil sie dazu gar keine Zeit hat. Sie ist vor allem damit beschäftigt, mir zu erzählen, was seit dem letzten Mal wieder alles passiert ist: "Hier ist jeden Tag was los!" 

Eine Feedbackrunde zur Karaoke-Veranstaltung hatte es wohl gegeben, und die "besonderen Gäste" wurden erwähnt, also Leute wie ich, Angehörige, die bei der abendlichen Singveranstaltung mit dabei waren. 
"Ich habe den Finger gehoben", erzählte meine Mutter kichernd, "weil unser Pfleger gesagt hat, dass der Sohn von Frau E. da war."
Sie wackelte mit ihrem erhobenen Zeigefinger: "Nein, nein, nein, habe ich gesagt", und "das war nicht mein Sohn, das war meine Tochter!"
"In der Tat", erwiderte ich augenzwinkernd, "dein Sohn hat einen langen Bart und immer eine komische Mütze auf dem Kopf. Wie kann man uns nur verwechseln!?" 😅

Mein Bruder lässt sich einfach zu selten blicken, sonst wüssten die Pflegekräfte, wer der Sohn ist, und wer die Tochter. Dem Pfleger war die Verwechslung einigermaßen peinlich, wie meine Mutter weiter ausführte. 
"Vielleicht liegt es an deiner Frisur", mutmaßte sie, wobei sie selbst auch nicht verstand, wie man mich für einen Mann halten kann. Nun ja: meine 'asymmetrische' Frisur, bei der eine Seite sehr kurz und die andere etwas länger ist, kann - je nachdem von welcher Seite aus man mich sieht - schon für Verwirrung sorgen. Vor dreißig Jahren hatte ich einen Rundum-Kurzhaarschnitt, da sind solche Irrtümer dauernd passiert. Einmal wollte mich eine Frau auf einer Islandreise sogar aus der Damentoilette verweisen, weil sie dachte, ich hätte mich in der Tür geirrt. 
"It's for ladies!", hatte sie gerufen, und ich hatte wie aus der Pistole geschossen geantwortet: "I am a lady!"
Das war ihr dann peinlich, aber mei: Da muss man drüber stehen. 😂 
Mich interessierte in diesem Moment das eigentliche Thema, nämlich wie meiner Mutter das abendliche Karaoke-Singen gefallen hatte. 
"Naja", meinte sie, und machte eine nach rechts und links wackelnde Kopfbewegung, die in Indien "Ja" bedeutet, in unserem westlichen Kulturkreis wiederum für ein Jein, also "mittelprächtig" steht. Mich hat es auf der Indienreise ziemlich verwirrt, dass die Leute dort dauernd auf diese spezielle Weise mit dem Kopf gewackelt haben, aber die Geste meiner Mutter signalisierte wenigstens keine totale Ablehnung. 😅👍 
"Sie wollen dieses Ko?..ke wiederholen und aufbauen", teilte sie mir mit, "und ich habe ja ein bisschen mitgesungen. Meine Stimme ist so leise, es geht noch nicht so gut, aber es wird schon besser!
Dieser erfreulichen Nachricht folgte ein hoch aufgeregter und höchst begeisterter Bericht von einem "Testkonzert", das völlig aus dem Nichts heraus, ohne Ankündigung in der Cafeteria stattgefunden hatte. Die Worte sprudelten regelrecht aus meiner Mutter heraus: Ein Mann mit einer verrückten Frisur, einem hochgesteckten Zopf am Hinterkopf war aufgetreten, der hatte sein ganzes Equipment mit einem Fahrradanhänger antransportiert, konnte so toll singen, und hatte immer gefragt, welche Lieder er spielen soll. Ein Rothemd hatte Geburtstag - also hatten alle zusammen ein Geburtstagsständchen gesungen, die Biene Maja hatte wie verrückt getanzt, sie war sogar auf eine Bank gestiegen - was für eine Stimmung! - und kurz vor Ende des Konzerts war noch eine Bewohnerin verspätet aufgetaucht, die auch so toll mitgesungen, mit Rollator getanzt und eine Show abgezogen hatte - eine echte Stimmungskanone... Am Schluss haben alle gesungen und getanzt. Es muss sagenhaft bombastisch sensationell gewesen sein. 😮 Damit nicht genug! Ich wusste nicht, ob sie noch vom Testkonzert sprach, oder von wieder einer anderen Singveranstaltung, wollte sie aber nicht mit lästigen Zwischenfragen ausbremsen. 
"Es gab auch Jodel-Einlagen", lachte meine Mutter, jodelte selbst ganz kurz vor ihrem (immer noch vollen) Weinglas, bevor sie weitersprach: "Da sind Töne aus mir herausgekommen! Ich habe meine eigene Stimme nicht wiedererkannt. Ganz tief, wie bei einem Mann!" 
Ich saß da und traute meinen Ohren nicht. 😮
Meine Mutter holte tief Luft, wackelte mit ihrem Oberkörper und meinte: "Es fühlt sich ganz anders an!"
Wenn sie mit dem Singen weitermacht, und das wird sie, dann bin ich wirklich gespannt, wie sich ihre Stimme weiter entwickelt. Hoffentlich kommt der Musiker mit dem verrückten Zopf am Hinterkopf wieder, zu einem offiziell angekündigten Konzert. Zu diesem hatte sich meine Mutter ja nur bereit erklärt, weil sie einem Rothemd einen Gefallen tun wollte. 😅 Mitsingen ereignet sich von selbst, wenn jemand vorsingt, und es müssen natürlich die richtigen Lieder sein: "Rosen aus Amsterdam war auch mit dabei", erzählte sie vergnügt, und stimmte gleich die Melodie an. 😁

Nachdem die Mutter all ihre Geschichten (und das hier Erzählte war nur ein Bruchteil davon!) bei mir losgeworden war, schaute sie mich an, und war für ein paar Sekunden lang still, bevor sie fragte: "Hättest du gedacht, dass du oder ich hier so etwas erleben würden?"
Ich schüttelte den Kopf: Nein. Das Leben ist eine echte Wundertüte, und Musik die beste Medizin.

#Parabelflug 

Siehe auch: RudelsingenZufall?Jetzt doch!Tummidemmi!, Unterhaltung(en)Essen (allein) macht nicht glücklichKopfsacheSoziales MediumTädäääh!Tür an Tür mit... Doris?ESC MuttertagMichelangelos neuester Hit, Musikantenstadl, SommerkonzertZippi-Zappi, (Zehn)Tausend magische Momente...Takeo Ishi jodeltTondichter vereintBoreoutbewältigung: Musikmedizin, #Muttergeschichten, #Musik#Spiegelung, #Lack 

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