Dienstag, 18. Juni 2024

Takeo Ischi jodelt

27 mm | 1/190 s | f1,6 | ISO 50 | Smartphone

 #Tonskulptur womöglich #Blumentopf
Vielleicht auch #Kunst,
fest verschraubt an Beton.

Gesehen in der #Maxvorstadt
#Muttergeschichten  #Digitalien

"Soll das ein Schweizer sein? Der schaut ja aus wie ein Chinese!"
Meine Mutter staunte nicht schlecht. Zwischen den Fußballspielen hatte sie zu Volksmusik.TV umgeschaltet, und während ich meinen Blogartikel verfasste, jodelte es mal wieder lautstark aus dem Nebenzimmer. Hollaaah-dirii-dirii-dirii, hollerra-hollerei-duljööh! Sie kennen das vielleicht, es ist ganz berühmt. 😜
Ich kann die Bürotür schließen oder mir Kopfhörer aufsetzen, um die permanente Geräuschkulisse aus dem Mutterzimmer auszusperren, aber speziell beim Schreiben geht meine Aufmerksamkeit in einen Tunnel. Dann nimmt mein Bewusstsein das Drumherum nur noch am Rande zur Kenntnis, und das ist wohl der Grund, warum ich so gerne und so viel schreibe. Bei dieser Tätigkeit bin ich dann mal für eine Stunde weg, obwohl ich körperlich anwesend bin = Flow.
Bestimmte Trigger-Geräusche dringen in diesem Tunnel durchaus an mein Bewusstsein, zum Beispiel wenn sie mir signalisieren, dass ich bei irgendetwas wirklich helfen muss. Nach so einer Störung oder Unterbrechung ist es allerdings schwierig, wieder in den Tunnel abzutauchen. Je öfter ich unterbrochen werde, desto schwieriger wird es, bis am Ende gar nichts mehr geht. 😵😰

Jodeln ist ein sehr spezieller Trigger. Das war so nervig, dass ich aufgestanden bin, um zu fragen, was sich die Mutter gerade anschaut, vor allem aber auch... warum? Früher hat sie diese Art von Musik gehasst, aber jetzt... Manche Dinge verändern sich doch.

Meine Mutter kann sich nicht merken, um welche Uhrzeit und auf welchem Sender die EM ⚽ übertragen wird, also zappt sie suchend durch die Kanäle. Dabei bleibt sie irgendwo hängen, so ein bisschen nach dem Glücksrad-Prinzip. Auf ihrem TV-Bildschirm war gerade eine schöne Berglandschaft zu sehen, und einen chinesischen Jodler konnte ich mir nicht wirklich vorstellen. Sekunden später wurde ich eines Besseren belehrt: Takeo Ishi. Der eingeblendete Name wies Richtung Japan.
Ein jodelnder Japaner in alpenländischer Tracht vor Bergkulisse sieht etwas ungewohnt aus, und Herr Ishi könnte in der neueren Zeit Vorwürfen der kulturellen Aneignung ausgesetzt sein. Aber warum soll ein so begabter Sänger nicht jodeln, wenn er es so gut kann, und wenn es ihm Spaß macht?! Anhören will ich mir das trotzdem nicht, egal woher der Interpret auch stammen mag. Das ist nichts Persönliches. 😊
"Das ist ein Japaner", klärte ich meine zutiefst erstaunte Mutter auf, und informierte sie sogleich, dass das nächste EM-Spiel gleich beginnen würde, und sie doch besser umschalten möge, um nichts zu verpassen. 😅 

Fußballgedröhne im Hintergrund habe ich auch in meinem richtigen Zuhause, das liegt unmittelbar in Hörweite des Sechzgerstadions. Mit diesen Klängen ist mein Wahrnehmungssystem vertraut, und weiß, wie es damit umzugehen hat: Ausblenden.
Was ich nicht ausblenden kann, sind intermittierende, spitze, schrille Schreie von Kinderspielplätzen, oder Fußbälle, die gegen eine Hauswand gedroschen werden. 😣😫 Da helfen nur Schallschutz-Kopfhörer, außer der Ball landet an meiner Fensterscheibe. Dann ist Wutanfall. 😡

Arbeiten im Homeoffice ist gewöhnungsbedürftig, Großraumbüros sind aber auch nicht das Gelbe vom Ei. Es gibt immer irgendjemanden oder irgendetwas, wodurch die Aufmerksamkeit abgelenkt oder die Konzentration gestört wird. Dann wären da noch die Smartphones, E-Mails und der ganze andere digitale Kram, die weitaus üblere Folgen für unsere Gehirne haben, als jodelnde Japaner. Die Sendung Multitasking - Wie viel geht gleichzeitig? (arte) beschäftigt sich mit diesem Problem: Fragmentierte Aufmerksamkeit verursacht nicht nur gesundheitliche Schäden, sie reduziert auch die Arbeitseffizienz.

Ältere Menschen sind nicht mehr so leistungsfähig, weil ihre Gehirne im Lauf der Zeit abbauen, hieß es bis vor einigen Jahren. Da ist sicher was dran, aber mittlerweile sind auch jüngere und junge Gehirne in ihrer Entwicklung gefährdet. Können Sie sich am Tag eine Stunde lang - ungestört - und konzentriert mit einer einzigen Sache beschäftigen? Reicht Ihre Aufmerksamkeit, um sich eine fünfzigminütige Wissenssendung anzuschauen?

Hat da gerade Ihr Handy gebimmelt oder gesummt? Müssen Sie schnell mal nachschauen, wer Ihnen eine Message geschickt hat, und müssen Sie die jetzt auch sofort beantworten? Oder jodelt Ihr Kollege im Großraumbüro, während ein Fußball auf Ihrem Schreibtisch landet?  😏 Schauen Sie sich die Doku an, die ist sehenswert. Das "Recht auf Nichterreichbarkeit" soll jetzt wohl ins Arbeitsrecht aufgenommen werden. Dass wir auch im Privatleben ein Recht auf Nichterreichbarkeit haben, muss sich erst noch herumsprechen. Es konsequent durchzusetzen liegt in unserer eigenen Verantwortung.

Siehe auch: Es Muttert, Klingelingeling, Die Homeoffice-Lüge, Alles blinkt und blökt, Quality Time, Bodenständig (Me Time) Appsala, Alles digital oder was?, Komfortzone, FOMO - Fear Of Missing Out, Diskretion, Negative Gefühle, Noppensocken, Tanz mit der Vergänglichkeit, Finden Sie den Oktopus!, Excel-Kopf, Musikantenstadl, Überschrift: Fußball

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