Mittwoch, 10. Mai 2023

Quality Time

#Sitzgelegenheit  #Stühle  #Morgenmeditation

Wo letztes Jahr der Monobloc im Großstadtdschungel stand, und durch seine pure Anwesenheit einlud, im Grünen Platz zu nehmen, hat ein neues, moderneres Möbelstück Einzug gehalten. Der schöne blaue Stuhl am verschwiegenen Bachufer ist mittlerweile weg. Sehr schade, aber vielleicht kommt er wieder, oder es findet sich eine neue Sitzgelegenheit. >Zeit

Als ich gestern früh im Grünen saß, und meine Morgenmeditation sich ihrem Ende zuneigte, klingelte mein Handy. Das Display verriet, dass eine langjährige Freundin dran war, von der ich lange nichts gehört hatte, also bin ich ran gegangen. "Wo erwische ich dich gerade?", fragte sie, und ich sagte: "Ich sitze im Wald und lausche dem Vogelgezwitscher."

"Aber du wohnst doch in der Stadt", meinte sie erstaunt, "da ist doch gar kein Wald?!"
Nun ja, das ist vielleicht Definitionssache. Die Isarauen sind ein Auwald, und da gibt es viel Grünzeug, Baumfreunde, plätschernde Bäche und zwitschernde Piepmätze. Manchmal hört man auch die Affen aus dem Tierpark kreischen, oder der große Löwe brüllt dazwischen. Bei so viel akustischer Untermalung bin ich lieber still und telefoniere nicht so gerne mit dem Handy. Meine Freundin konnte die Vögel im Hintergrund hören, und räumte ein: "Ja, das ist gut zum Runterkommen. So bereitest du dich also auf den Tag mit deiner Mutter vor?" Ja, in der Tat. Das ist Quality Time, die ich mit mir selbst verbringe.

Speziell in dieser Zeit gehe ich nur ans Telefon, wenn es wichtig ist. Auch sonst muss ein Telefonat zur Aktivität passen, mit der ich gerade beschäftigt bin. Wenn im Mutterhome die heiße Pfanne auf dem Herd steht, oder wenn ich gerade die Hände im Spülwasser habe, erlaube ich es mir, das Bimmeln von Telefonen zu ignorieren. Die meisten Anrufer haben sowieso nicht viel Geduld, und legen wieder auf, wenn man nicht innerhalb von Nullkommanichts reagiert. Darum sind Anrufbeanworter eine tolle Erfindung. Nicht ständig erreichbar zu sein hilft dabei, die ToDo-Liste, die man sich für den Tag vorgenommen hat, tatsächlich abzuarbeiten. Ganz schlimm sind Chat-Apps, die ich gar nicht erst installiere. Ein Facebook-Freund schrieb vor einiger Zeit: "Ich habe den Eindruck, dass du zu einer bestimmten Zeit Feierabend machst." Gut beobachtet. Er hat das auch ausprobiert und fand es offenbar klasse. 

Zeitsouveränität
Jeder Mensch hat jeden Tag 24 Stunden Zeit. Die Möglichkeit bewusst darüber zu entscheiden, wie, womit, und mit wem wir diese Lebenszeit verbringen, bezeichnet man als Zeitsouveränität. Die ist, je nach Lebenssituation, ziemlich unterschiedlich. Als Mitarbeiter*in eines Lieferservices oder als Pflegekraft haben Sie weniger Zeitsouveränität als jemand, der schon in Rente ist.
Jenseits der beruflichen Rahmenbedingungen stellt sich die Frage, womit wir die uns zur Verfügung stehende "Frei-Zeit" verbringen. Was tut Ihnen gut, was stresst Sie in Ihrer Frei-Zeit? Sind Sie schon von Ihrer Arbeit so ausgelaugt, dass Sie abends nur noch seichte Soaps aushalten, oder nachts nicht mehr schlafen können?

Überforderung
Viele Leute, mit denen ich mich unterhalte, berichten von einem Gefühl, dass ihnen alles irgendwie zuviel ist, und dass sie kaum noch hinterherkommen. Sogar meine Mutter hat das neulich geäußert, obwohl sie krankheitsbedingt kaum etwas "zu tun" und nichts zu erledigen hat. Wo (kommt sie nicht mehr) hinterher? Bei ihr sind es die Nachrichten im Fernsehen, die sie sichtlich überfordern.
Bei jüngeren Menschen kommen der Beruf, die Familie, die täglichen ToDo's und alles mögliche andere obendrauf. Die überforderte Gesellschaft, würde ich als Überschrift nehmen. Aber was genau löst dieses Gefühl der Überforderung aus?
Liegt es daran, dass wir alles richtig machen wollen (obwohl wir das gar nicht können)? Haben wir zu hohe Ansprüche an unser Leben, oder auch an unser Miteinander? Nehmen wir uns zu viel vor? Sind wir zu abgelenkt von tausenderlei medialen Angeboten? Verbringen wir die Zeit mit Dingen oder Menschen, die uns nicht gut tun? Das ist individuell verschieden. Hätten Sie Zeit, oder gerade die Kraft, um über solche Fragen nachzudenken? Auch bei mir gibt es Tage, an denen ich lieber eine Runde Tetris spielen würde, weil mich das beruhigt. Solche Spielchen sind Zeitkiller, und bei mir sind sie ein Warnsignal.

Lebensqualität
Der Begriff Quality-Time kommt aus den USA, und bedeutet "bewusst verbrachte Zeit". Er bezieht sich schwerpunktmäßig auf die Zeit, die man mit Familienangehörigen und Freunden verbringt. Quality Time steht in engem Zusammenhang mit der sogenannten Work Life Balance, also der Idee, Beruf und Privatleben unter einen Hut zu bekommen, und alle Lebensbereiche im Gleichgewicht zu halten. Dieses Gleichgewicht kann nur dynamisch sein, denn das ganze Leben besteht aus mehr oder weniger großen Veränderungen: Veränderungen im Beruf an sich, Jobwechsel, Umzug, Heirat, Kinder, Enkelkinder, Krankheiten, Schicksalsschläge, Pandemie, Inflation, Krieg... Manches können wir steuern, vieles nicht. Müssen wir auf alles reagieren, oder können wir uns auch mal ausklinken?
Indem ich mir jeden Morgen ganz bewusst eine halbe Stunde Zeit für mich selbst nehme, und mich generell von der Informationsflut aus den Medienkanälen abschotte, komme ich besser und gelassener durch den Alltag. Ich setze Prioritäten, die sich immer wieder verändern: dynamisches Gleichgewicht. Wenn ich mich bewusst entscheide, etwas zu tun, dann bin ich zu 100% da. 

Nach dem spontanen Telefonat im Wald kam ich deutlich später im Mutterhome an. Meine Mutter kennt das, und kann auch mal zwanzig Minuten später frühstücken. Wäre ich auf dem Weg zu einem wichtigen Termin gewesen, oder hätte mich der Anruf an einer Supermarktkasse erreicht, hätte ich später zurückgerufen. Bei vielen Leuten ist das Smartphone wichtiger als die Personen, mit denen sie gerade im Restaurant sitzen, und die Smartphonesucht nimmt zu. Auch das trägt zum Gefühl der Überforderung bei.
Viele kleine, scheinbar banale Entscheidungen verändern den Tagesablauf, und in Summe das ganze Leben. Passt es gerade? Das ist eine wunderbare erste Frage, wenn jemand anruft. Dann weiß ich auch, dass das Gespräch wahrscheinlich etwas länger dauern wird, und kann entsprechend antworten. 😏

Siehe auch: Großstadtdschungel, Nehmen Sie doch Platz!, Meditation, Nachgereichtes im Februar 23, Lichtung, Aha-Moment, Verschwiegene Orte, Zur Beruhigung, Reflexionenreflexion, Wie in den Tropen, Lauschiges Plätzchen, Zeit, Zeitbegriff, Der perfekte Moment, Routenplan B, Zeitwahrnehmung, Tempus fugit, Excel-Kopf, Keine Zeit...?, Rückzugsorte

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1 Kommentar:

Hans hat gesagt…

Wie richtig erkannt, wenn nicht selektiert wird (MedienInfo, Freizeitaktivität, etc., etc.) könnte einem aufgrund des immensen Angebotes bzw. der Möglichkeiten der "Schlag" treffen. mfg