Mittwoch, 5. Juni 2024

Spargel macht schön

25 mm | 1/60 s | f2,2 | ISO 160 | Smartphone

 #Oase der #Ruhe
Was hat der #Waldschrat denn da im Gesicht?

"Auch die Spargelbauern werden ausgebeutet!!!"

Der Satz hätte von meiner Mutter stammen können, war diesmal aber von meinem Mann. Wenn ich morgens durch die Wohnung wirble und mich gedanklich und organisatorisch für den Tag im Mutterhome wappne, zappt er noch ganz gemütlich durch die TV-Programmübersicht. Er programmiert unsere digitale Fernsehkiste, und stellt uns täglich ein auf unsere Interessen maßgeschneidertes und weitgehend werbefreies Programm zusammen.
Im Hintergrund läuft zu dieser Zeit manchmal eine Wiederholung des NDR Verbrauchermagazins Markt, mit einer zugkräftigen Mischung von Tipps und Informationen, die mal mehr und mal weniger relevant für unseren Alltag sind. Diesmal also ein Beitrag über die Spargelbauern, und was der günstige Spargel aus dem Discounter wirklich kostet. Erpressung und Ausbeutung, so lernen wir, gibt es nicht nur im fernen Bangladesh, sondern auch hierzulande, und wir sind mit daran beteiligt. Auch wir hatten eine Portion des unverschämt preiswerten Spargels genussvoll verspeist. 😨

"Jetzt habe ich fast ein schlechtes Gewissen", erklärte mein Mann schuldbewusst. Dabei ist das Thema alt und bekannt, von Diskussionen um den Milchpreis, über billige Mode und faire Schokolade bis hin zum Tierwohl. Die Liste ist lang und wird täglich länger. Unter'm Strich lautet die Botschaft: "Der Verbraucher" hat es in der Hand, der entscheidet an der Supermarktkasse, ob er Avocados aus Peru haben will, oder Weintrauben aus Indien. Angesichts all dieser potenziell weltverändernden Entscheidungen, die ich als Konsumentin jeden Tag treffen muss, fühle ich mich manchmal schon morgens um neun total überfordert. Jetzt können wir uns überlegen, ob wir unser Verhalten ändern, also Spargel auf dem Balkon selber ziehen, wenn neben den Kartoffeln und den Zwiebeln noch Platz ist...

Kaum war der Spargel-Beitrag vorbei, kam schon der nächste Aufreger hinterher: Hyaluron ohne Wartezeit: Neuer Trend mit der Schönheit.
"Das musst du dir anhören!", echauffierte sich mein Mann, und ich dachte: Moment, ich bin doch noch gar nicht im Mutterhome!? 😜
Dank der tollen Timeshift-Funktion können wir laufendende Sendungen pausieren, neu starten oder zurückspulen. Das ist nicht wie im analogen Mutter-TV, wo man die ganze Zeit dranbleiben muss, oder auch mal etwas überhören oder verpassen kann. In unserem Digitalfernsehen werden manche Sätze dreimal zurückgespult, dann kann man sie deutlich besser auf ihre Wortgewalt und Aussagekraft hin analysieren. 

Obwohl ich mich eigentlich längst auf den Weg ins Mutterhome hätte machen wollen, erfuhr ich vom neuesten #Schönheitstrend: Falten glätten, Gesichtskonturen modellieren, Lippen aufspritzen - da gibt es jetzt tolle neue Möglichkeiten. In sogenannten Walk-Ins, die sich in Fußgängerzonen ausbreiten, kann man sich ohne lästige Wartezeit einem chirurgischen Schönheitseingriff unterziehen, jetzt auch bei richtigen Medizinern.
Hyaluron-Spritzen, Botox... das interessiert mich bestenfalls als Diskussionsgrundlage, um meiner Mutter eine Antifaltenbehandlung auszureden. Ohne Termin und ohne Wartezeit klingt wiederum fantastisch. Das würde ich mir für Kassenpatienten in der Hausarztpraxis wünschen, aber es ist, wie bei den Spargelbauern, eine Frage der Finanzierung. Als Privatpatient bekommt man (fast) überall sofort einen Termin. Die Hyaluron-Spritze ist generell für Selbstzahler, darum geht das Konzept an dieser Stelle auf.

Walk-In and find out, was den medizinischen Fachmann dazu bewegt hat, seine Dienste kundenorientiert im unmittelbaren Umfeld hinlänglich bekannter Schönheitsproduktanbieter feilzubieten:
"Wir haben uns gedacht, dass wir dieses [unser medizinisches Fach-]Wissen nicht nur in einer kleinen Praxis anbieten, und nicht für uns alleine behalten, sondern es [die Behandlung?] zu ermöglichen, es zu demokratisieren, sozusagen." So spricht ein findiger Unternehmensgründer. Machen Sie ein Kreuz in Ihren Kalender: Wir erleben gerade die Demokratisierung der medizinischen Schönheits-OP. Ich wusste gar nicht, wie weitreichend Demokratie sein kann!
Weiter heißt es im Beitrag: Man verstehe die Walk-Ins als "niederschwelliges Angebot" und als "Pendant zu dem, was der Hausarzt früher in der Praxis in der Sprechstunde gemacht hat: Da gab es eine Sprechstunde von eins bis drei, und da konnte man ohne Termin reingehen. So ist das bei uns auch, und da können Sie sich die Behandlung, die Sie sich wünschen, in bekannten Lagen unproblematisch holen."

Die Lage der klassischen Haus- und Facharztpraxen ist bekannt, und die Verfügbarkeit gewünschter Behandlungen nicht unproblematisch, darum brauchen wir Walk-Ins für alle!
Wie nennt man diese Argumentationsmethode? Den Zuschauer mit Worthülsen schwindlig schwurbeln, also #Bullshit-Bingo. Die Kundin oder auch der Kunde entscheidet, was angeboten wird: Die einen wollen mehr vegane Produkte, die anderen wulstige Lippen. Wir haben die Freiheit der Wahl und das ist Demokratie. Ich zitiere Schotty, den Tatortreiniger: "Wahh???"

"Dass so jemand Sendezeit in einem Verbrauchermagazin kriegt, ist eine Unverschämtheit!", tobte mein Mann. Nun ja, es kamen ja auch noch andere, durchaus kritische Stimmen zu Wort? Aber es stimmt schon: Wenn Markt nicht von dieser tollen neuen Möglichkeit berichtet hätte, wüsste ich jetzt gar nichts davon, und Sie auch nicht, weil Sie den Text jetzt schon gelesen haben. Sorry...

Ich finde, man muss ein bisschen weiter denken: Womöglich sind demokratisierte Schlauchbootlippen bei dieser oder der nächsten Hochwasserlage ein super Überlebensmechanismus, und vielleicht sogar ein evolutionärer Vorteil? Ein Schwimmreifen passt in meinen Tagesrucksack nicht mehr rein. Bevor man so einen Beitrag als unzulässige Produktplatzierung anprangert, muss man nicht nur die Risiken und Nebenwirkungen bedeutender Innovationen abwägen, sondern auch deren Wert für die Demokratie.
Meine Mutter würde so eine Behandlung schon nehmen, sie bräuchte nur einen Hausbesuch vom Schönheits-Doc, weil sie mit ihrem Rollator nicht mehr außer Haus und ins Walk-In gehen kann, da bräuchte es eher einen unternehmerischen Rollout für einen Roll-In. Verbesserungsvorschlag: Hausbesuche ins Geschäftsmodell aufnehmen, denn die Bevölkerung altert, und der Bedarf wächst. Wenn der Schönheits-Doc persönlich vorbeikommt, kann er zur Effizienzsteigerung von unterwegs gleich den Spargel mitbringen. Diesen Service vermarkten wir dann als Beauty-Rollando. 😜

Siehe auch: Tief durchatmen, Eierpanik, Salat: Ob der wohl gesund ist?, Zwiebel-Experiment, Guter Draht zu Mutter Erde, Chaos in der City, Woraus bestehen Sie?, Verstrickt, Dadaffiti, Neulich in Babylon, Zeitgeistig, Appsala, Diskretion, Teuflisch gut, Frisuren und irgendwas mit 'ik', Zu langsam!, Ein Plädoyer für intelligente Mediennutzung

Weiterführende Links

  • Timeshift-Funktion: Zeitversetztes Fernsehen - Wikipedia
  • Spargelsaison: Der wahre Preis für das Stangengemüse - Markt, NDR-Mediathek
  • Hyaluron ohne Wartezeit: Neuer Trend mit der Schönheit - Markt, NDR-Mediathek

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