Dienstag, 25. Juni 2024

Der Weinstadl

27 mm | 1/480 s | f1,6 | ISO 50 | Smartphone

#Sehenswürdigkeit  #Architektur
#Altstadt  #München  #City
#Tradition #Gaststätte #Mutterhistorie

"Der Weinstadl in der Burgstraße 5 ist eines der ältesten noch erhaltenen Häuser Münchens und ein Baudenkmal", kann man im Jahr 2024 noch bei Wikipedia lesen, allerdings fehlt der Hinweis, dass es den Weinstadl schon seit vier Jahren nicht mehr gibt. Das Gebäude der Ehemaligen Stadtschreiberei ist aber immer noch eine der historischen #Sehenswürdigkeiten in München. Mittlerweile beherbergt es ein neues Restaurant, das Tohru, das wiederum zu einem Gastronomie-Ensemble gehört, das sich den Namen "Die Schreiberei" gegeben hat.

Eine frontale Aufnahme der gesamten Aussenfassade in nur einem Bild ist in der engen Burgstraße schwierig,  darum hatte ich mehrere Aufnahmen gemacht, und zu einem - trotzdem leicht verzerrten - Panorama zusammengefügt. Sehen Sie mir die krude Bastelarbeit nach, sie soll Ihnen nur einen Eindruck vom Ensemble vermitteln. Weiter unten finden Sie eine etwas hübschere Version aus einer seitlichen Perspektive, auf der man aber die Wandmalereien nicht so gut erkennt.

17 mm | 1/350 s | f2,2 | ISO 50 | Smartphone

Die Schreibstuben der Stadtschreiber waren vermutlich oben in der etwas überproportioniert wirkenden Mansarde. Der Ausblick von dort ist bestimmt erbaulich und ideal, um über München zu sinnieren. Die Phase der Schreiber dauerte an diesem Ort allerdings nur von 1552 bis 1612, und da sah die Stadt wieder völlig anders aus. 😏
"Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude 1944 schwer beschädigt und 1951 wieder instand gesetzt. Im Innenraum befindet sich der letzte gotische Treppenturm mit Schnecke in München. Außerdem ist das Haus eines der wenigen mit einer noch erhaltenen Himmelsleiter." So bezeichnet man "eine geradläufige Treppe, die mehrere Stockwerke miteinander verbindet, und so gestaltet ist, dass der Eindruck entsteht, die Treppe würde bis in den Himmel reichen." (Wikipedia) 

Der Weinstadl als Traditionsgaststätte ist nur einer von vielen Münchner Betrieben, die die Corona-Maßnahmen nicht überlebt haben. Die Gastronomie ist generell schwierig und schnelllebig, und muss sich aktuellen Trends anpassen. Insofern war das alte Gasthaus schon lange ein Relikt aus grauer Vorzeit. Ein Edelrestaurant und "Kleinod mit kosmopolitischem Akzent" ($$) und Hygienekonzept passt besser in die aktuelle Ära. Auf der Homepage der 'Schreiberei' findet man weder Speisekarte noch Preise. Wer danach sucht, hat in Locations wie dieser wahrscheinlich nichts verloren. Bei der Frage, ob es schmeckt und gefällt muss ich mich momentan an den Rezensionen im Internet orientieren, und die sind gemischt. 😉

Im Innenhof des alten Weinstadl konnten wir vor vierzig und vor fünfzig Jahren sehr ruhig und sehr lange ausgesprochen gemütlich sitzen. Auch heute beklagen Gäste, dass es im neuen Restaurant wohl recht laut ist, und dass man von DJs beschallt wird. Die Akustik im Weinstadl ist mir schon früher unangenehm aufgefallen, auch ohne DJ, und das liegt vermutlich am Gemäuer. Aber: "Das Brot im Weinstadl war umsonst", betont meine Mutter immer wieder, was daran liegt, dass Ihre Erinnerungen an diesen Ort schon SEHR alt sind.  😅

28 mm | 1/60 s | f5,6 | ISO 100 | Canon EOS 10D

#Renovierung   #Tradition  #Gaststätte 
#Altstadt  #München  #City
20. Dezember 2005

Dieses Foto zeigt eine kleine Seitengasse unweit des Gebäudes während einer Renovierung im Dezember 2005. Ich wollte in den Weinstadl hinein, um im historischen Gewölbekeller ein paar Bilder aufzunehmen, aber... es war gerade Baustelle. 😂 Danach war der Keller schon nicht mehr so, wie in unseren letzten Erinnerungen. Es war moderner und "aufgeräumter". Charakteristisch waren immer noch die rustikale Einrichtung aus Holz mit rot-weiß karierten Tischdecken, und Kerzenleuchter aus Schmiedeeisen. Mittlerweile ist das urige Gemäuer instagrammable designt. Es gibt Meeresfrüchte und explizit vegetarische Gerichte statt Bratwurst mit Sauerkraut. Das Vorher-Nachher Bild des Kellers (zu finden auf der neuen Restaurant-Homepage) habe ich unten direkt verlinkt, damit Sie besser verstehen, wovon ich hier berichte. Zwischen dem Alt und dem Neu liegen Welten. 

Ikone der Vergangenheit
Im Alter von nur vierzehn Jahren hatte meine Mutter in der Münchner Altstadt, in einem alteingesessenen Schreibwarenladen am Dom ihre Lehre angetreten, und später viele Jahre "in der Stadt" (heute City) gearbeitet (Oh Marylin!). Sie wohnte noch bei ihren Eltern am Stadtrand, also musste meine Mutter täglich mit dem Vorortzug pendeln. Ihre Arbeitstage inklusive Samstag waren lang, und der S-Bahn Tunnel, die sogenannte "Stammstrecke" war erst Jahrzehnte später fertig. Jetzt wird gerade die zweite Stammstrecke gebuddelt, und man könnte sagen: so manches wiederholt sich. 😅

Mein 1966 verstorbener Großvater hatte seine junge Tochter manchmal von der Arbeit abgeholt, und so war der Nachkriegs-Weinstadl in den 1950er Jahren das Stammlokal der Familie. Dort konnte man einen Schoppen "Hauswein" trinken, auch wenn man als Kriegsflüchtling oder als Lehrling nicht viel Geld hatte. Für die junge Generation eröffneten die Wirtschaftswunderjahre die Möglichkeit, sich durch Fleiß und harte Arbeit ein neues Leben aufzubauen, es herrschte Aufbruchsstimmung. Auch die verarmten Großeltern wollten das Leben nach den bitteren Kriegsjahren wieder genießen und sich etwas gönnen. Dafür stand auch der Weinstadl, als Refugium des Wohlbefindens. Heute schickimicki.

65 mm | 1/800 s | f3,6 | ISO 125 | Lumix FZ1000 ii

#Burgstr  #München #Sehenswürdigkeit  #Architektur
#Altstadt  #München  #City  #2024 

Update oder nicht?
Mein Bruder hat unserer Mutter oft angeboten, sie im Auto auf eine München-Tour mitzunehmen, und er würde sie heute noch in einem Rollstuhl durch die Gegend schieben, damit sie sich die Orte ihrer Jugend noch einmal "in Echt" anschauen kann. Das will sie nicht. In Berichten auf München TV sieht sie, wie es in der City neuerdings ausschaut, sie ist ja informiert. Wahrscheinlich genauso gut, wie bei der Geschichte mit dem Pornopapst 😂. Die bittere Realität ist, dass sie sich an vielen Stellen der Innenstadt überhaupt nicht mehr auskennen würde. Fakt ist auch, dass ihr so ein Ausflug viel zu anstrengend wäre. Ich bin froh, wenn sie unfallfrei ins Bad und wieder zurück kommt.

Die Erinnerungsbilder in ihrem Kopfkino sind ihr näher und schöner, und sie werden immer wichtiger: Rückzug aus der Gegenwart und vom Leben. Oft schwelgt sie in der Vergangenheit und erzählt die immer gleichen Geschichten, wie es früher - also in den 1950er und 1960er Jahren - war: Die Straßenbahn und der Autoverkehr fuhren noch über den Marienplatz und durch die Neuhauser Straße. Das kenne ich nur noch von historischen Postkarten oder aus selten gezeigten Filmsequenzen. Bei mir ist hängen geblieben: In den Nachkriegsjahren war man fleißig und bescheiden, München war "urig", und das Graubrot im Weinstadl gab es umsonst.
Jetzt gibt es vermutlich Baguette zu den Muscheln, und dazu Champagner. 🥂 Warum nicht. Bratwürste und Sauerkraut mag ich sowieso nicht, und die Himmelsleiter klingt interessant. 😅 

Wenn ich von meiner Mutter gerade etwas lerne, dann ist es, nicht auf dem Sofa sitzen zu bleiben. Ein Leben aus zweiter Hand, das über Bildschirme ins Bewusstsein flimmert, ist nur der Abklatsch einer realen Erfahrung. Erinnerungen an alte Zeiten sind absolut okay und wichtig, Vergleiche zwischen dem Damals und dem Jetzt versuche ich, in einem zeitgeschichtlichen Kontext zu sehen. Am wichtigsten für mich selbst ist es, immer wieder aktuelle Eindrücke zu gewinnen, aus denen neue Erinnerungen werden. In einer gefühlt schöneren Vergangenheit hängen zu bleiben ist wahrscheinlich typisch für das Älterwerden. Irgendwann fällt der Vorhang, darum ist jeder bewusst wahrgenommene Tag ein Geschenk. 🙏

Siehe auch: Oh Marylin!, Langer Samstag, München 866, München k(l)otzt, München im Wandel,  Chaos in der CitySo nah und doch so fern, Frauenplatz, Stimmung!, Das Ende einer Ära, Brutalistenpisten, Endlich frei?

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