Sonntag, 6. Juli 2025

Unterhaltung(en)

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#lecker #Schokokuchen
#Muttergeschichten #Pflegeheim

Wenn ich zur rechten Zeit im Pflegeheim ankomme, gibt es gerade Kaffee und Kuchen. 😁 Der wird im Zimmer serviert, und meine Mutter bekommt auf Wunsch statt Kaffee eine Tasse kalte Milch. Ihren Kuchen isst sie nicht immer, und damit er nicht weggeworfen wird, schiebt sie mir ihren Teller rüber. 😋 Dieses Mal hatte ich von der Pflegekraft eine eigene Portion bekommen, wodurch sich unser Ausflug in den Cafeteria-Garten ein wenig verzögerte. 
"Schokokuchen", seufzte meine Mutter, "immer gibt es Schokolade! Gestern gab es Schoko-Eis."
Vanille mag sie lieber, aber ja: Das ist Jammern auf hohem Niveau. 😅 
Dieser Kuchen war jedenfalls superlecker, und sie hat ihr Stück ausnahmsweise selbst verspeist. 

"Unterhaltung habe ich hier wirklich", sagte sie, und im Gegenzug sprach ich ihr ein Lob dafür aus, dass sie wirklich tapfer ist. Letzte Woche hatte sie sich ihre rechte Hand böse zwischen einem Türrahmen und dem Rollstuhl eingeklemmt. Gebrochen war gottseidank nichts, die Schwellung ist mittlerweile zurückgegangen, aber der hässliche und auffällige, dunkelviolette Bluterguss ist unübersehbar. Wie konnte das passieren? 😓

Zwei Pflegekräfte waren nacheinander auf mich zugekommen, noch bevor ich das Mutterzimmer betreten und die Verletzung überhaupt gesehen hatte. Sie hatten mir versichert, dass alles getan werde, damit die Hand gut und schnell heilt. Den genauen Unfallhergang konnte ich erst nach zwei Gesprächen mit meiner Mutter genauer rekonstruieren. 

Nach den Gruppenveranstaltungen im Garten nehmen alle Teilnehmer auf dem Rückweg ins Haus den Weg durch eine Tür, die nicht ganz so breit, und die Rampe etwas steiler ist, als an anderen Zugängen. Es ist der kürzeste Weg zu einem größeren Aufzug. Dabei hatte eine - womöglich ungeduldige, vielleicht auch nur hilfsbereite - Mitbewohnerin den Rollstuhl meiner Mutter von hinten unerwartet angeschoben - Crash an der Tür.
"Ich kann das alleine", schimpfte meine Mutter, "aber ich habe hinten keine Augen. Wenn mich dann einer von hinten schiebt... Ich habe laut geschrien!" 😱😩😰
Kein Wunder. Jetzt darf meine Mutter nicht mehr unbegleitet in den Garten, zumindest nicht durch diese Tür. Auch wenn diese neue Vorschrift sinnvoll und absolut richtig ist, ist es für meine Mutter ärgerlich. 😡 😞 Hoffentlich hat Frau X. kapiert, dass sie Mist gebaut hat, und solche Aktionen in Zukunft unterlässt. Es ist oft gut gemeint, aber Rollstuhlschieben will gelernt sein. Dafür sind ja auch die Pflegekräfte mit dabei, sie können nur nicht gleichzeitig alle Leute im Auge behalten. 😓

Nachdem wir unseren Kuchen vertilgt und den Garten sicher erreicht hatten, stießen wir mit unserem halben Piccolö-chen darauf an, dass ihre Hand nicht mehr so weh tat, wie in den Tagen zuvor. Schmerzsalbe? "Nein, die haben alles da." 👍
Danach erzählte meine Mutter von einem weiteren 'Event' aus der zurückliegenden Woche. 
"Rothemd hat mich wieder gefragt, ob ich mitkomme", begann sie, und am Zwinkern in ihren Augen konnte ich erkennen, dass wieder irgendetwas Amüsantes vorgefallen sein musste. 
"Ich habe das Rothemd gefragt, was wir machen", fuhr meine Mutter fort, "und sie hat gesagt 'Wir gehen spazieren'." 
Einem Spaziergang war meine Mutter nicht abgeneigt, also stimmte sie zu. 
"Und was soll ich dir sagen?", fragte sie rein rhetorisch, um die Spannung zu steigern.
"Was?", fragte ich. 
"Sie hat mich in einen Raum geschoben, in dem ein Vortrag war. Und ein Chor hat gesungen." Meine Mutter begann zu kichern, als das Bild der Chorsängerinnen vor ihrem inneren Auge erschien. 
"Was für Gesichter die beim Singen gemacht haben!" 😂😂😂 
Sie schüttelte lachend den Kopf und schnitt selbst wilde Grimassen, damit ich mir die Szene besser vorstellen konnte. 
"Vorne im Raum hat eine Frau gesprochen, von Jesus und allem möglichen, und ist mit einer Schale durch die Reihen gegangen. Da waren Steine drin, in der Schale, und Wasser. Damit ist sie vor mir stehengeblieben und hat mir die Schale hingehalten. Ich wusste erst gar nicht, was ich machen sollte."
"Ach herrjeh", entfuhr es mir. 
Ein Gottesdienst mit Weihwasser, und ausgerechnet meine Mutter mittendrin... Wenn jemand so gar nichts mit Kirche zu tun haben will, dann ist sie es. Ich dachte, die Betreuerinnen hätten das längst geschnallt, aber vielleicht dachten sie, dass der Chorgesang - das ist ja auch irgendwas mit Musik - die Teilnahme am Gottesdienst interessanter machen würde? Nun ja, die neuen Gesichter... 😉

"Die anderen Insassen haben reihum ihren Finger in die Schale gestippt, und sich mit dem Wasser ihr Kreuzerl auf die Stirn gemacht", berichtete meine Mutter weiter, "aber ich habe mich nicht bewegt! Vielleicht hat die Frau mit dem Kragen gedacht, dass ich Alzheimer bin und ich sie nicht verstehe", führte die Mutter weiter aus. Weil ihre Weihwasserverweigerung als solche nicht korrekt verstanden wurde,  "hat sie mir das Kreuzerl auf die Stirn gemacht und ist weiter gegangen." 
Ich war erst mal baff. Meine Mutter lebt noch, sie ist also kein Vampir. Gleichzeitig hat sie den Gottesfürchtigen bewiesen, dass sie nicht vom Teufel besessen ist, denn auch der scheut bekanntlich das Weihwasser. 😅

Ihr Bericht erinnerte mich an eine Szene aus meiner frühen Jugend: Einmal hatte ich ein langes Wochenende bei einer Freundin verbringen dürfen, die in eine fünfhundert-Seelen-Gemeinde im Chiemgau umgezogen war. Tiefstes, ländliches Bayern, 1970er Jahre... Dort kannte jeder jeden, anders als bei uns, am relativ anonymen Stadtrand Münchens. Die Familie meiner Freundin war erzkatholisch, und - Besuch hin, Besuch her - der tägliche Gang in die Dorfkirche war Pflicht. Mich nahmen sie einfach mit.
Ich war zwölf, hatte nur in der ersten Grundschulklasse den Religionsunterricht besucht, und überhaupt keinen Plan, was bei so einem Gottesdienst auf mich zukommt. Gebete murmeln und Lieder singen, deren Texte und Melodien ich nicht kannte; in der Bibel die richtige (welche?) Seite aufschlagen, und zum Schluss Oblaten beim Pfarrer abholen - irgendwie so ist das in meinem Gedächtnis abgespeichert. Zum zweiten Kirchenbesuch am Sonntagvormittag hat mich die Familie dann nicht mehr mitgenommen. Es war wohl zu peinlich mit so einem gott- und ahnungslosen Heidenkind im Schlepptau, denn da wird im Dorf hinterher geredet. 😅  
Ich glaube, sie haben meine Mutter entsetzt angerufen. Sie wiederum muss der Familie klargemacht haben, dass ich nicht in die Kirche muss, und dass ich mich ganz gut zwei Stunden alleine beschäftigen kann, während sie zum Beten gehen. So ist mir all das erspart geblieben, aber Dank dieser Erinnerung konnte ich meiner Mutter nun eine entscheidende Fachfrage stellen: "Gab es auch Oblaten?" 

"Nein", kicherte sie, "es gab irgendein anderes Gebäck, aber das hat nach Arsch und Friedrich geschmeckt." 😂
[Gemeinsame längere Lachpause]
"Oblaten schmecken auch nach nichts", bestätigte ich amüsiert, "und außerdem bleiben diese Dinger an den dritten Zähnen kleben. Darum nehmen sie hier was anderes, damit sich keiner verschluckt, oder an den Oblaten erstickt."
"Der Leib und das Blut Jesu!", rief meine Mutter mit erhobenem Zeigefinger.👆 😆
"Du hättest nach dem Messwein fragen sollen", meinte ich. 😉 Ja, wenn wir uns diesbezüglich nicht bessern, dann landen wir beide in der Hölle. 😅
Meine Mutter holte tief Luft und wurde wieder ernst.
"Weißt du, ich finde es scheiße, wenn die mir erzählen, dass wir spazierengehen, und dann lande ich in so einer Veranstaltung! Die sollen gefälligst ehrlich sein, und sagen, was Sache ist!"
"Das finde ich auch", bekräftigte ich, und äußerte meine Absicht, das Thema bei der Verwaltung anzusprechen. Gottesdienst-Befreiung für die Mutter! Nicht nur das, sondern so generell, denn die unfreiwillige Teilnahme an altmodischen Veranstaltungen, unter Vorspiegelung falscher oder gar keiner Erklärungen, mag bei dementen Bewohnern gerade noch okay sein, aber nicht bei jemandem wie meiner Mutter. Sie weiß ganz genau und kann auch artikulieren, was sie will, und was nicht. Ich muss einen so energischen Eindruck gemacht haben, dass mich meine Mutter im nächsten Moment gleich wieder ausbremste. 
"Nein, lass mal", sagte sie. "Ich will keinen Ärger."
Wahrscheinlich befürchtet sie, dass durch mein Eingreifen Nachteile für sie entstehen, oder dass die Therapeuten einen auf den Deckel kriegen, und die mag sie ja prinzipiell. Mir hat sie damit signalisiert, dass sie auch weiterhin ihr Schicksal selbst in der Hand hat, und nicht auf Mithilfe angewiesen ist. Das finde ich richtig gut. 😎👍
"Meiner Mitbewohnerin habe ich gestern auch wieder die Meinung gesagt", ergänzte meine Mutter noch, bevor sie mir mitteilte, dass sie einen neuen Verehrer hat. 
"Jemand von der Station?", hakte ich interessiert nach. 
"Ja, der arbeitet in dem schönen Büro, hinten am Glasfenster, wo ich immer an meinem Balkon sitze. Wenn er rauskommt, grüßt er mich mit meinem Namen", erzählte sie hoch erfreut. "Der macht irgendwas mit Haustechnik, und ich sage immer 'Servus' zu ihm." 😊
Auch super. Vielleicht schickt dieser Haustechniker bald einen Servicetechniker, denn am Pflegebett meiner Mutter ist irgendwas kaputt: es quietscht, und eine Holzverkleidung hängt schräg in der Halterung. Es war wohl schon jemand da, der das reparieren wollte, es muss aber eine aufwändigere Sache sein. Warten auf's Ersatzteil?
"Hoffentlich bricht das Bett inzwischen nicht zusammen", lachte meine Mutter verschmitzt, und ich verzichtete auf weitere Fragen. In dieser Redaktionssitzung hatte ich schon wieder mehr Material gesammelt, als auf meinen Notizzettel passte... 😅

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