Mittwoch, 19. März 2025

Halluzinogen

27 mm | 1/10.000 s | f1,6 | ISO 50 | Smartphone

#Gegenlicht  #Sonne  #Wege #Licht&Schatten
#Muttergeschichten #Pflegeheim

Auf dem gestrigen Nachhauseweg musste ich anhalten, um genau dieses Foto zu machen, obwohl es nicht ganz das wiedergibt, was ich gesehen hatte. Stellen Sie sich bitte noch vor, dass auf jedem dieser seitlich geparkten Fahrzeuge ein fast genauso krasser Sonnenstern meine Augen blendete. Dort gab es - allein in diesem Bildausschnitt - ungefähr noch acht weitere,  hintereinander aufgereihte helle Lichtquellen, vorher war ich schon an fünfzig anderen vorbeigeradelt. Da siehst du nix mehr, es ist der reinste Blindflug, aber auch schön, weil ein eiskalter, aber supersonniger Tag hinter mir lag. 🌞

Zuvor hatte ich meine Mutter im Pflegeheim besucht, selbst etwas schlapp nach den anstrengenden Aufräumungsarbeiten im ehemaligen Mutterhome. Auch wenn das Pflegepersonal auf diesen Akt der Höflichkeit verzichtet, klopfe ich immer an, bevor ich das Doppelzimmer betrete. Meine Mutter saß in ihrem Rollstuhl, ziemlich nahe an der Tür, und schaute in meine Richtung, so als wollte sie gerade aus dem Zimmer fahren oder ins Bad abbiegen. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, forderte mich meine Mutter sehr energisch auf: "Schau mal, ob die Tür wackelt!" 😕
Nanu? Ich hatte nichts bemerkt, und fand ihren Hinweis, dass die Tür möglicherweise aus den Angeln fallen könnte, etwas beunruhigend. Also: Tür nochmal auf- und wieder zumachen.

"Alles in bester Ordnung", versicherte ich ihr, aber das reichte nicht.
"Du  musst das von hier aus anschauen!", erklärte sie voller Unmut, also prüfte ich die Szene auch aus ihrer tieferen Perspektive. Es ging um den schmalen Schlitz zwischen Boden und Tür, durch den von draußen etwas Licht vom Stationsflur in den unbeleuchteten und somit etwas dunkleren Flur des Zimmers hereinscheint: Eine kontrastreiche Lichtlinie in der Dämmerung.
"Das ist schief!", rief meine Mutter irritiert, beinahe verängstigt, und "die Kante bewegt sich!" 😰

Ich zog erst mal meine Jacke aus, begutachtete die Tür erneut, und versicherte ihr noch einmal, dass mit der Tür alles okay war.
"Irgendwas mit meinen Augen stimmt nicht!", räumte sie nun leicht verärgert ein, und fuhr so weit zurück ins Zimmer, dass ich an ihr vorbei und meinen Rucksack abstellen konnte. Ich hatte den ganzen Tag fast nichts gegessen, und merkte selbst, dass mein Kreislauf das nicht so toll fand: Runterbücken - schwarz vor Augen. 😵 Den nächtlichen Temperaturabfall auf gut unter 0°C und den eisigen Gegenwind beim Radfahren hatte mein Körper ja auch noch wegzustecken. Dann wieder +25°C im Mutterzimmer, das schlaucht. Kaffeejunkies wissen, was dagegen hilft ☕, und: Erst mal hinsetzen. 🪑

Als ich meine Besucherinnenparkposition eingenommen hatte, erfuhr ich, dass es einen neuen Pfleger auf der Station gibt, es musste geklärt werden, welche Pflegerin gemeint ist, wenn meine Mutter "die Dicke" sagt, und ob der Tisch wirklich genau in der Mitte zwischen den beiden Bettseiten steht, damit der Rollator namens Otto korrekt eingeparkt werden kann. 😅

Die Mitbewohnerin meiner Mutter, die am Wochenende noch wegen einer Erkältung im Bett geblieben war, hatte vormittags Besuch vom Arzt gehabt, und der hatte meine Mutter auch gleich mit angeschaut.
"Er hat gesagt, das ich einen Fehler im Gehirn habe", sagte sie, not amused, und dass der Doktor ihr einen Augenarzt vorbeischicken wolle, weil er "solche Sachen, von denen sie ihm berichtet hatte, noch nie gehört hat." Das machte mich natürlich hellhörig. 😟
"Was für Sachen?", fragte ich nach, zumal die Mitbewohnerin oder meine Mutter auch noch erzählten, dass sich der Arzt nach der Untersuchung wohl einigermaßen besorgt gezeigt hatte.
"Es ist alles ganz bunt!", rief meine Mutter beinahe verzweifelt. "Die Wände, das Geschirr im Essraum - alles!" 😲
"Wie sieht das denn aus?", hakte ich nach.
"Da sind bunte Karos an der Wand, und Kreise, und... wie heißen diese anderen Dinger, die man an Fasching verstreut?"
"Konfetti!"
"Da! Siehst du!! Schau hin!", rief meine Mutter aufgeregt, und zeigte auf die Wand, die in einem dezenten beige-gelben Farbton gestrichen ist. 😕
Ich hatte eine weiße Kaffeetasse in der Hand, so wie sonst auch, und dieses Gefäß war in der Wahrnehmung meiner Mutter ebenso konfettibunt, wie die Wände und ihre weißgrau gestreifte Bettwäsche.
Am Wochenende zuvor hatte ich mit dem Stationspfleger noch die aktuelle Medikation meiner Mutter besprochen und erfreut erfahren, dass das Entwässerungsmedikament, das ihren Appetit so stark beeinträchtigt, schon vor einiger Zeit abgesetzt worden war. Das kann natürlich an solchen Kreislaufwettertagen zu Blutdruckschwankungen führen. Was sie sonst noch bekommt, klang nicht außergewöhnlich. Vorübergehende Phasen mit merkwürdigen Wahrnehmungsphänomenen hatte sie zuhause und in der Unfallklinik auch schon gehabt. 😟
Ich versuchte also sie erst mal zu beruhigen, indem ich sie daran erinnerte, auch wenn ihre halluzinogenen Erscheinungen wahrlich kein gutes Phänomen sind. Es scheint einem LSD-Rausch zu ähneln, und ich witzelte "Das was du hast, hätte ich auch gerne. Hattet ihr heute Mittag ein Pilzgericht?"
Nein, der Witz kam bei meiner Mutter nicht so gut an. Sie war total aufgewühlt.
Weil ich im Rucksack ein paar Kleinigkeiten aus dem Mutterhome mitgebracht hatte, stellte ich meine Konfettitasse auf den Tisch, um die Hände zum Auspacken frei zu haben. Meine Mutter stieß einen lauten Schrei aus: "Die Tasse! Die Tasse!"😱, rief sie, und  zeigte mit ausgestrecktem Arm darauf.
"Was ist mit der Tasse?!", fragte ich erneut nach.
Meine Mutter nahm eine Haltung ein, als wolle sie in Deckung gehen, ... weil die Tasse gleich durch den Raum fliegen würde? Ufo-Alarm?!
"Die fällt gleich runter! Stell sie weiter hinter!" Es klang nach echter Gefahr im Verzug.
Meine Tasse stand zehn Zentimeter vom Tischrand entfernt, also absolut sicher, aber ... wenn man eine verbogene Tür sieht, die fast aus den Angeln fliegt, werden zehn Zentimeter zu zwei Millimetern.
"Ich nehme die Tasse jetzt in die Hand", sagte ich, "dann kann sie nicht runterfallen."
Das stimmte in diesem Fall nicht, denn der Kaffee nebst Tasse waren noch total heiß. Verbrannte Finger oder Panikattacke? Gut, dass Tassen einen Henkel haben.
Wieder zeigte meine Mutter auf meine Tasse und rief: "Pink!" 😱😱😱

Wuuuhhhw... 😨 Was machste da? Irgendein Ablenkungsmanöver, bei dem mir die Mitbewohnerin zu Hilfe kam. Auch sie wirkte einigermaßen verunsichert. 😕😕😕
Irgendwie kam das Gespräch wieder in Gang, trotz der weiterhin bunten Konfettiparade 🎉, auf die meine Mutter zwischendurch immer wieder hinwies. Schließlich gelangten wir zu einem Bericht von der netten alten Bayerin, die meine Mutter jetzt wieder häufiger im Essraum trifft, und extra länger bei ihr sitzen bleibt, damit sie nicht alleine im Raum ist. Diese Mitbewohnerin hat jetzt einen neuen internen Namen: Porno-Oma! 👵 Nach dem irritierenden Auftakt gab es endlich wieder was zu lachen. 😂 Nach dem Pornopapst wundert mich gar nichts mehr. Was genau diese alte Frau im Zwiegespräch mit meiner Mutter erzählt hatte, wissen erst mal nur die beiden, und die Zimmernachbarin meinte: "Ick hätte mir nicht jedacht, dat sowat innem Altenheim besprochen wird. Je oller, desto doller." 😂

Somit war das bedrohliche Konfettiszenario erst mal in den Hintergrund gedrängt. Ob ein Augenarzt meiner Mutter wirklich weiter helfen kann, wage ich zu bezweifeln. Hoffentlich wird es keine Krankenfahrt zur Neurologie. 😓 Bei mir hatten die zwei Tassen Kaffee den Kreislauf wieder stabilisiert, und ich hoffe, dass die halluzinogene Phase meiner Mutter, wie bei den letzten Malen, auch diesmal wieder von alleine verschwindet.
Als ich nach all dem vom Licht geblendet nach Hause radelte, und auf dem Foto die vielen anderen vor Ort gesehenen Lichteffekte nicht wiederfand, dachte ich: Hm, hatte ich unterwegs vielleicht auch Halunkinationen? Haben die mir was in den Kaffee getan?
Nein, natürlich nicht: Auf dem Fahrrad sitzend bin ich etwas größer und die Lichtspiegelungen kommen aus einem anderen Winkel. 😎

Weiter mit: Konfettimedizin

Siehe auch: Raus ins Freie, Lichtgestalt, Schattenjäger, #Licht&Schatten, #Schatten, #Sonne

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Weiterführende Links

  • Halluzinogen - Wictionary, Wikipedia
  • LSD - Wikipedia
  • Was passiert bei einem LSD-Rausch? - drugcom.de:
    "Umgangssprachlich sprechen Konsumierende von „Optiken“. Das können zum Beispiel Gegenstände sein, die sich anfangen zu bewegen oder ineinander verschmelzen, Farben, die intensiver leuchten oder Lichteffekte, die sich kaleidoskopartig verändern. (...) Das Gehirn scheint unter der Wirkung von LSD als Ganzes aktiviert zu werden und wird in einen Zustand versetzt, der dem eines Kleinkinds ähnelt. (...) Konsumierende haben das Gefühl, eins zu sein mit der Natur oder mit anderen Menschen. Eingefahrene Denkstrukturen werden durchbrochen. Alle Sinneswahrnehmungen wie Hören, Sehen, Riechen oder Schmecken werden intensiviert. Getragen wird dieser Effekt meist von einer positiven Grundstimmung bis hin zu einer kosmisch-mystisch anmutenden Einheitserfahrung. (...) Da der Rauschverlauf stark abhängig ist von der Person, ihren Erwartungen und der Situation kann die positive Stimmung im Rausch auch in Panik und Entsetzen umkippen."

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