Montag, 3. Juli 2023

Da muss ich ja denken...!

26 mm | 1/350 s | f2,2 | ISO 50 | Smartphone

#Isar  #Untergiesing  #München
#Muttergeschichten

Es ist gerade sehr beeindruckend, wie viele verschiedene Wildblumen gleichzeitig und auf engstem Raum am Isarufer vor sich hinblühen. Heute könnte ich Ihnen nicht weniger als zehn verschiedene Blümchenstudien zeigen, beschränke mich aber auf diese eine. Normalerweise schaue ich auch nach, welches Pflänzchen mir da vor die Kamera geraten ist, aber dazu habe ich heute keine Zeit, und morgen wahrscheinlich auch nicht. 

In meinem Leben gibt es gerade wieder mehr eigene Aktivitäten, und die meisten finden jenseits des Bildschirms und außerhalb des Mutterhome statt. Das ist gut so, auch wenn es mich manchmal Überwindung und Kraft kostet, aus den eingefahrenen Routinen auszubrechen. Ich muss das tun, und ich will das tun, um den düsteren Geist der Depression auf Distanz zu halten.

Auch wenn ich mich aus dem Pflegealltag herausdividiere, gibt es immer noch genug zu tun. Diese Woche kommt beispielsweise der Kaminkehrer ins Mutterhome, um die jährliche Abgasprüfung durchzuführen. Der ist Frühaufsteher und fängt um sieben Uhr morgens mit seinen Kundenterminen an.

Für Berufstätige ist das super, für meine Mutter ist es der pure Stress. So ein Termin könnte total einfach sein, wenn es ihr gelänge, auf das Klingeln an der Tür nicht, oder einfach entspannt zu reagieren. Das Zeitfenster für die Termine in der gesamten Wohnanlage ist 7-10 Uhr, ab 9 bin ich vor Ort, und wenn um sieben Uhr keiner aufmacht, kommt der Kaminkehrer eben zwischen neun und zehn nochmal vorbei. Ois easy. Bescheid sagen muss ich der Mutter natürlich, und schon gehen die Diskussionen los.
"Hach, wenn der klingelt und ich bin gerade im Bad!"
"Dann machst du einfach nicht auf, der kommt später wieder, und ich bin um neun Uhr da..."
"Und wenn er vorher kommt? Bis ich mit dem Rollator an der Tür bin, ist der wieder weg!"
Ob DHL, Kaminkehrer, oder wer auch immer: Es klingelt oft an der Tür, auch wenn es gar nicht für uns ist. Die Mutter ist jedes Mal gestresst - ja wer könnte das denn sein? - und ich bin es auch, weil dieses "Gesamtpaket" einfach nervt. Glocke abstellen wäre eine Möglichkeit, und sie jedes mal wieder aktivieren, wenn jemand zu uns muss? Es sind zwei verschiedene Schaltkreise an der Tür, einer ist nicht ohne Leiter erreichbar, und außerdem bin ich kein Elektriker. Glocke an, Glocke aus - ich hab' doch keinen an der Waffel.
Diese Woche haben wir insgesamt zwei Termine, die von der üblichen Routine abweichen: Morgen früh bin ich beim Zahnarzt, da muss die Mutter alleine frühstücken. Das kann sie, wenn ich alles herrichte, und wenn was fehlt, muss sie halt dem Pflegedienst sagen, was sie braucht.
"Was ich mir alles merken muss!", protestierte sie. "Da muss ich ja denken!"
"Oh, wie schrecklich!", sagte ich sarkastisch, "wozu hat man sein Hirn?!" 

Das hatte sie wirklich ernst gemeint. Ihr klarzumachen, wieviel Glück sie hat, dass sie nach ihrem Schlaganfall noch denken, sprechen und sich an die Fußballergebnisse vom Vortag erinnern kann, kann ich mir sparen. Das ist für sie genauso selbstverständlich wie die Vielzahl von Servicedienstleistungen, ohne die ihr Leben zuhause überhaupt nicht mehr funktionieren würde. Dass "irgendjemand" das alles koordinieren muss, kommt ihr nicht in den Sinn. Geburtstage von Lieblingspflegekräften vergisst meine Mutter komischerweise nicht, dafür hätte ich heute fast vergessen, für ihren Physiotherapeuten ein Geschenk zu besorgen. Ihr Gedächtnis und ihr Hirn funktionieren gut, aber ausgesprochen selektiv.

Anstatt mal einen Satz zu spendieren wie "Vielen Dank, dass du dich um alles kümmerst", zog sie ein langes Gesicht, weil ich die falschen Pralinen und einen profanen Einkaufsgutschein für den Physio besorgt hatte. Mangelnde Wertschätzung macht mich schon lange nicht mehr traurig oder wütend. Meine Mutter ist so, wie sie ist, und das ändert sich auch nicht mehr. Mein Mann beschreibt sie als den "beratungsresistentesten Menschen, der ihm in seinem ganzen Leben begegnet ist". Das gilt allerdings nicht für Werbespots, denn die sind wichtige Informationen, und die soll ich mir unbedingt anschauen. Wenn nicht, erklärt sie mir genau, was es an neuen Produkten gibt, und was wir mal ausprobieren sollten.
Zur Zeit schaut meine Mutter also vorzugsweise Werbung. Nachrichten sind out, was vielleicht daran liegt, dass es BILD-TV schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gibt. Ein paar Dinge ändern sich ja doch. 😅 Wenn der  flaschenpost-Werbespot mit dem süßen Lieferanten läuft, ist sie glücklich. Bei mir lösen fünf Quadratmeter Blumenwiese diesen Effekt aus, und so gehe ich mit meiner Knipskiste in stiller Dankbarkeit vor den Blümchen in die Knie. 🙏 Die Geschichte über "Die mit den Brotkrümeln tanzt" hebe ich mir für ein anderes Mal auf.

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