Unterhaltsam

#Mural  #Muttergeschichten

"Das letzte war schöner", rief mir ein Passant zu, während ich auf einem Bordstein balancierend nach dem optimalen Bildausschnitt für mein heutiges Foto suchte. Der Mann war auf dem Weg zu seinem geparkten Auto und hatte es offensichtlich eilig. Deshalb bestand keine Möglichkeit, ihn in einen tieferen Austausch über Fassadenwerbungskunst zu verwickeln.
Mir gefällt das neue Sommermural etwas besser als das vorherige, aber nicht so gut, wie das vor-vorherige, und beim Schlachtfeld 2022 war ich sowieso zwiegespalten. Wandkunst bewegt, auch wenn diese bewegten Figuren an der Wand in ihren Bewegungen eingefroren sind. Am besten gefällt mir in diesem Motiv der aufgemalte Rahmen, der visuell gesprengt werden soll, wie man so schön sagt. Woher diese Redensart kommt, habe ich nicht auf Anhieb recherchieren können, gleich kommt die Fußpflegerin ins Mutterhome, darum habe ich wenig Zeit. Dieser konkrete Rahmen gefällt mir, weil er so plastisch gemalt ist, dass ich beim ersten Hingucken dachte, der Rahmen an der Hauswand wäre echt und aus Metall. Bei den tanzenden Figuren weiß man ja, dass die nicht echt sind, selbst wenn man sie aus der Fernsehwerbung kennt.

Nicht gut im Sinne der Werbewirkung ist bei diesem Mural, dass man nicht weiß, wer hier eigentlich Werbung macht, und wofür. Da hätte das Firmenlogo weiter oben im Motiv angebracht werden müssen, damit es auch jeder vom Straßenniveau aus sieht. Bums wiederum kann man gut lesen, ist ja auch in Rot aufgesprüht, und in Augenhöhe. 😜

Den bewegten Werbeclip zum neuen Mural hatte ich im Mutterhome einige Male aus dem Augenwinkel gesehen, aber auch nur, weil meine Mutter das visuelle Kunstwerk sogleich kommentiert hatte: "Was soll denn das bedeuten?", fragte sie, "verstehst du das?", wartete aber nicht auf eine Antwort, sondern lieferte ihre Einschätzung gleich mit dazu:  "So ein Quatsch!"

Werbung wirkt - allerdings nicht immer und nicht bei jedem. Meine Mutter gehört nicht zur Zielgruppe von Tech-Konzernen, darum ist es auch egal, ob ihr der Clip gefällt, oder ob sie ihn überhaupt versteht. Neulich hat sie mich gefragt, was ein Influenser ist, und sich erkundigt, ob ich das nicht auch machen könnte, weil man da viel Geld verdient. Ich meinte daraufhin, dass sie das Zeug dazu hätte, eine Influencerin zu werden, aber da hat sie nicht weiter nachgefragt. Das war ihr wahrscheinlich zu suspekt, oder sie dachte, ich wollte sie veräppeln. Nein, wirklich. Wenn ich mit ihr einen Youtube-Kanal aufmachen würde, ...  Nein, sie will lieber ein Buch schreiben, aber das geht nicht, weil sie nicht mehr schreiben kann. (Sie sehen hier einen unsichtbaren, winkenden Zaunpfahl. 😅)

Dass sie zur Zeit bevorzugt Werbung schaut, hatte ich neulich erwähnt. Heute bekam ich prompt den Auftrag, den griechischen Käse einer ganz bestimmten Firma zu kaufen, und zwar genau den, und nicht irgendein No-Name-Produkt, zu denen auch alle Produkte zählen, die sie nicht kennt, selbst wenn es Markenware ist. Qualität ist wichtig, und wenn ein Produkt fünfmal am Tag im Werbefernsehen zu sehen ist, muss es gut sein. Auf jeden Fall macht es Appetit. Da diskutiere ich gar nicht lange, ich kaufe ihr einfach den Käse. Wenn er ihr nicht schmeckt, kann sie ja beim Fernsehsender anrufen, und eine Beschwerde einreichen. 

"Es kommt überhaupt nichts Unterhaltsames mehr im Fernsehen", erklärte sie mir beim Frühstück, "auf allen Sendern nur Ukraine, Krieg, Revolte in Frankreich, Klimakleber - überall ist Stress."
Hundertdreißigtausend Polizisten sind im Einsatz, war der allererste Satz, den sie mir heute früh entgegengeschleudert hatte, als ich ihr Zimmer noch gar nicht betreten hatte.
"Wo?", hatte ich aus dem Flur gefragt, und als Antwort kam: "Das musst du dir mal vorstellen. Revolution! Das ist die Zeitenwende. Eine Zeitenwende hin, die andere Zeitenwende her", sinnierte sie weiter.
Was auch immer sie damit gemeint haben mag - erst mal Kaffee machen. Dass sicher nicht auf ALLEN Sendern Nachrichten laufen, ist klar.
"Du kannst dir doch auch die Tierpark-Doku auf dem Dritten anschauen", erklärte ich mit unschuldigem Gesicht, meine hinterhältige Provokationslust verbergend. Sie weiß genau, dass ich weiß, dass sie Tiersendungen langweilig findet, und Tierpark-Dokus insbesondere.
"Ja", pflichtete sie mir sarkastisch bei, "soll ich mir etwa anschauen, wie Tierpfleger den Mist aus dem Stall schaufeln, und was Giraffen zu fressen kriegen? Das ist Depperlfernsehen!"
Sie hatte ntv gewählt, und dort wurde gerade eine Zuschauerumfrage eingeblendet.
"Finden Sie die Politik von Kanzler Scholz gut oder schlecht?", las meine Mutter vom Bildschirm ab.
"Welche Politik?", fragte ich, mit meinem immer noch unschuldigen Gesichtsausdruck.
Meine Mutter bekam einen ihrer legendären Lachanfälle. Als sie sich wieder halbwegs beruhigt hatte, kicherte sie: "Ich weiß nicht, was die in der Klinik mit mir gemacht haben. Ich muss die ganze Zeit lachen, und damit stecke ich alle an. Die lachen dann alle mit."
"Das ist doch gut", meinte ich, und stellte ihr den Kaffee auf den Tisch. "Lachen ist gut gegen den Stress. Oder würdest du lieber die ganze Zeit weinen?"
"Ich muss mir jetzt die Parade in Frankreich anschauen", erklärte sie, "da ist heute Nationalfeiertag."
Als ich den Frühstückstisch etwas später abräumte, erhielt ich das Update:
"Die Engländer können das besser", fasste sie zusammen, und verwies auf die Krönungszeremonie von König Charles. Die ist zwar nicht jedes Jahr, macht aber mehr her. Genau wie die Werbung für den griechischen Käse. Wen interessieren schon Rahmen sprengende Tänzerinnen? 😆

Siehe auch: Auf dem neuesten Stand?, Dramaturgisch notwendig, Bringt's was?, Wahllos

Mural: Stell dir vor..., Schlachtfeld 2022, Ein bisschen Frieden?, Wie eine Fata Morgana, Heroisch, Photokatalytisch?,  Sonnengraffiti

Muttergeschichten: Unisono, Ausgelutscht, Sendeschluss, Pornopapst, Hoppala..., Wieviele Finger sind das denn?,  Heute ist wieder so ein Tag..., Zippi-Zappi,  Hausmittel, Heute schon gezaubert?, Wenn Unbeteiligte beteiligt sind, Wetter, Fußball und Champagner, Klare Sicht vor Silvester, Feste feiern, Oh Marylin!,  Da muss ich ja denken!, Weltuntergang, Hitze-Opfer, Ein Untier ist los!, Die Wahl der Qual, Das N-Wort