Sonntag, 21. Januar 2024

Vorsicht Glatteis!

28 mm | 1/127 s | f1,9 | ISO 40 | Smartphone
21. Januar 2021

 

#MemorableMoments  #nachgereicht

Stellen Sie sich vor, Sie treten eine neue Arbeitsstelle an, und Sie gehen zum ersten Mal ins neue Büro. Das Projekt, an dem Sie ab sofort arbeiten werden, ist extrem wichtig, und Sie müssen sofort loslegen, weil Sie noch vor dem Mittagessen erste Ergebnisse abliefern müssen. Als Sie das Büro betreten, stellen Sie fest, dass Ihre Arbeitsgeräte - Computer, Telefon und noch nicht mal der Schreibtisch - da sind. Außerdem hat Ihnen niemand vorher gesagt, dass Sie schnellstmöglich Chinesisch lernen müssen.

Ungefähr so war die Situation im Mutterhome am 21. Januar 2021. Es war der Morgen, an dem meine Mutter nach ihrem Schlaganfall und knapp vier Monaten Aufenthalt in verschiedenen Kliniken und Reha-Einrichtungen nach Hause entlassen wurde. 

Das blanke Glatteis auf der Straße, das ich an diesem Morgen fotografiert hatte, steht sinnbildlich für das Glatteis, auf das ich geraten bin, als ich in meiner Naivität dachte, dass Pflege im häuslichen Umfeld zu schaffen sei. Irgendwie ist das auch zu schaffen. Welchen Preis es kostet, habe ich seit jenem Tag vor drei Jahren auf die harte Tour lernen müssen.

Auf eine außergewöhnliche Situation ist man nicht vorbereitet, außer wenn man sie schon einmal selbst erlebt hat. Ich hatte schon häufiger Andeutungen von Freunden gehört, jemand warf das Stichwort "pflegebedürftig" in den Raum, und weil das ein schwieriges Thema ist, will man es auch gar nicht so genau wissen. Das betrifft mich hoffentlich nie, denkt man, und wenn, dann gibt es dafür Profis. Ja genau. Organisieren müssen Sie trotzdem eine ganze Menge.

Das geht schon!
Als ich meine Mutter am Heiligen Abend 2020 in der Reha zuletzt besucht hatte, war sie noch im Rollstuhl gesessen. Ihr rechtes Bein und die rechte Hand waren nahezu ohne Gefühl, sie konnte kaum Gegenstände greifen oder halten. Die Halbseitensymptomatik hatte kurioserweise ihr Gesicht nebst Mundwerk ausgespart. Reden konnte sie also, wie ein Wasserfall sogar, und ihr Gedächtnis war auch halbwegs okay. Glück im Unglück, dachte ich. 😟
Nach Aussagen der Klinik sollte meine Mutter nun, vier Wochen später, in der Lage sein, mit einem besonders stabilen Unterarm-Rollator kurze Strecken alleine zurückzulegen. Bei der wiederholt gestellten Frage, ob denn jemand vor Ort sei, der die Patientin zuhause betreut, hätte ich argwöhnisch werden müssen. In der Klinik ging man anscheinend davon aus, dass ich im Haushalt der Mutter lebe, 24 Stunden am Tag. Das hatte sie wohl allen erzählt, obwohl es nicht stimmte. Wenn es ihr nützt, erzählt meine Mutter gerne mal "Stories". Sie wollte endlich entlassen werden, dabei konnte sie weder alleine aufstehen, noch zu Bett gehen. Wie man bei einem Erwachsenen Windeln anlegt, hatte mir keiner gezeigt, und eine Glocke für den Nachtdienst gab es im Mutterhome auch nicht. Kevin allein zuhaus... unmöglich.
 
Projektmanagement
So weit war ich morgens um neun noch gar nicht in die Tiefe der Materie vorgedrungen. Ich hatte ein anderes akutes Problem: Im Mutterhome war nichts vorbereitet, weil der Reha-Dienstleister erst an diesem Morgen alle bestellten Gerätschaften liefern sollte: Das Krankenbett, den Unterarm-Rollator, ohne den die Mutter bis heute weder stehen noch laufen kann, und noch so ein paar andere Dinge, wie zum Beispiel eine Toilettensitzerhöhung und einen WC-Stuhl auf Rollen.

Der kommunizierte Plan war: Reha-Lieferant, komme bitte zeitig am Vormittag, die Mutter trifft mittags ein und braucht das Zeug. Sie kennen den Spruch: Gott lacht, wenn Menschen Pläne machen. Ich erfuhr am Telefon, dass die Mutter in der Klinik bereits ausgecheckt war, und in einer Stunde eintreffen sollte, während der Reha-Lieferant frühestens am Nachmittag mit all den dringend benötigten Gerätschaften vorbeikommen wollte. Ob ich meine Mutter ins Bad tragen soll?, fragte ich den Disponenten, und schilderte ihm die Situation. In der Wohnung sah es aus, wie bei einem Umzug.

Bürokratie
Das hätte man alles schon viel früher organisieren können!, werden Sie jetzt denken. Ja, das hatte ich auch gedacht und angeleiert, aber nein: Erst brauchen wir ein offizielles Entlassungsdatum, schriftlich bestätigt von der Klinik, dann kann die Pflegekasse die Geräte bewilligen, und dann kann der Bestellvorgang und die Disposition für Bett & Co. erfolgen. An irgendeiner Stelle war auch noch eine unterschriebene Rückbestätigung per Telefax erforderlich. Gut, dass meine FritzBox das kann! Das Mutterleben-Organisationsbüro arbeitete schon seit Wochen auf Hochtouren, "remote aus dem Homeoffice", denn Corona war ja auch noch, so ganz nebenbei.
Die Entlassung aus der Reha erfolgte so kurzfristig, weil der medizinische Dienst nach Aktenlage keine weitere Rehaverlängerung genehmigt hatte. Und so mussten alle bürokratischen und logistischen Hürden in zwei Tagen genommen werden. Die Kranken-/Pflegekasse war dabei wirklich sensationell: verständnisvoll, unterstützend und blitzschnell 🌟🌟🌟🌟🌟!

Der Mitarbeiter in der Reha-Disposition grummelte am Telefon:  "Sie sind wahrlich nicht der einzige Haushalt, den wir heute beliefern müssen." Er sorgte trotzdem dafür, dass der Transport eine Stunde später im Mutterhome eintraf, trotz der Eisplatten auf den winterlichen Straßen. 💖
Inzwischen hatte ich nochmal in der Klinik angerufen, damit sie mir noch eine Stunde Aufschub für Lieferung und Umbauzeit gewähren. Ich bat sie, den Krankentransport wenigstens so lange zu verzögern, bis der "Umzugstrupp" mit all den Kartons und Werkzeugen wieder draußen wäre. Also saß meine Mutter im Rollstuhl im Foyer der Klinik, und wunderte sich, warum das Krankentaxi vor der Tür so lange wartete.

Punktlandung
Um elf Uhr war der Reha-Dienst raus, zehn Minuten später traf der Krankentransport ein. Die temporäre Erleichterung wich der Erkenntnis, dass ich ab diesem Moment auf mich allein gestellt war. Der Pflegedienst würde erst am nächsten Morgen zum ersten Frühdienst erscheinen, also Learning by Doing: Crashkurs Inkontinenzversorgung, Hilfe bei alltäglichen Tätigkeiten, Begleitung auf die Toilette, Essen zubereiten, Geschirr spülen, dann alles wieder von vorne, während die Mutter ihre Erlebnisse aus der Reha loswerden wollte.

Ich wusste nicht, ob sie nachts aus dem Bett fällt, also blieb ich im Mutterhome. Dreimal zwei Stunden Schlaf, bis Mohammed aus Albanien frühmorgens wie ein rettender Engel erschien. So konnte ich erst mal nach Hause zu meinem Mann. Ich glaube ich habe einen Schnaps mit ihm getrunken und bin auf dem Sofa eingeschlafen. Um die Mittagszeit musste ich schon wieder zurück ins Mutterhome, unterwegs Medikamente aus der Apotheke holen, Begleitung zur Toilette, Mittagessen, Abspülen ... neue Routinen bahnten sich an. Und zur Krönung des Tages gab es einen komplett verstopften Küchenabfluss. Mein Mann kam mit dem Werkzeugkasten, ich putzte danach eine Stunde lang den Schlamm aus dem Küchenunterschrank. Die Küche sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen.

Pures Chaos
Der tags zuvor gelieferte Rollator war etwas zu breit, die Mutter blieb damit jedes Mal an der Badezimmertür hängen. Türschwellenausgleiche (>Barrierefreiheit) gab es auch noch nicht. Die mussten bestellt, für jede Tür erst mal ausgemessen, und dann maßgefertigt handgeklöppelt werden. Ich glaube es hat sechs Wochen gedauert, bis nach zwei Reklamationen alles passte. Ich hatte schon am ersten Tag kurzerhand Rampen aus Amazon-Kartons und Gaffa-Tape improvisiert. Das sieht nicht aus, aber es hat funktioniert.
Den Antrag auf Zuschuß für Umbaumaßnahmen für eine möglichst barrierefreie Wohnung hatte ich bei der Pflegekasse eingereicht, jetzt sollte ich die Handwerker dafür organisieren. Eine spezialisierte Innenarchitektin erklärte mir, dass die Badezimmertür nicht verbreitert werden kann. Zwischendurch sollte ich noch eine 200 Seiten starke Infobroschüre im PDF-Format lesen, wie das alles so mit der Pflegekasse funktioniert. Die Papierunterlagen für die nächsten anstehenden Aufgaben stapelten sich derweil in meinem Arbeitszimmer.

Höllenritt
"Das werden harte Wochen", notierte ich am 22. Januar 2021 in mein Notizbuch, und das war optimistisch: Es wurden harte Monate, anfangs mit einer 60-Stunden-Woche im Mutterhome, plus zwei Einsätzen des Pflegedienstes, jeweils morgens und abends. Ich war erleichtert, dass ich gerade kein Buchprojekt und keine Abgabetermine hatte. Es kamen auch keine mehr, ich hatte unversehens einen neuen "Job", und einen Nervenzusammenbruch.

In den darauf folgenden Wochen und Monaten wurde die Mutter moderat mobiler. Es war trotzdem klar, dass sie sich nie wieder selbst würde versorgen können, und bis zu ihrem Tod auf weniger oder mehr Hilfe angewiesen sein wird.  Bis heute beharrt sie darauf, ausschließlich zu Hause betreut zu werden, dadurch sind mir juristisch die Hände gebunden. "Ich kann ja nichts dafür", beteuert sie jede Woche, und damit ist jedes Gespräch über eine Verlegung in eine Pflegeeinrichtung beendet. Vogel friß, oder stirb.

Die Kombination aus "ich bin ja Freiberuflerin mit freier Zeiteinteilung und Homeoffice im Mutterhome" nebst Dumdum-Geschoss Corona, plus Mutterschlaganfall obendrauf war eine Gemengelage, die mich sprichwörtlich von den Beinen gerissen hat. Über Nacht war alles anders, es war ein Tsunami in meinem Leben, der alles auf den Kopf gestellt hat. Die Aufräumungsarbeiten dauern an. Drei Jahre.

Wo ist der Ausgang?
Meinen Einsatz und mein Engagement habe ich sukzessive reduziert, in der nächsten Phase sollen externe Dienstleister meine Aufgaben übernehmen. Ein extra Budget dafür gibt es nicht, wir haben alles ausgeschöpft, was das Gesundheits- und Pflegesystem hergibt. Ich kann verschiedene Dinge selber machen, oder jemanden dafür bezahlen, damit ich den Rücken wieder zum Arbeiten frei habe. Es kommt mir manchmal vor, wie die Wahl zwischen Pest und Cholera. Oder Schweinegrippe statt Corona. 😞
Die emotionalen Erpressungsversuche meiner Mutter laufen mittlerweile ins Leere; ich übe mich in professioneller Distanz, durchforste das Internetz nach Informationen, und lasse mich coachen, wie ich aus dieser Nummer am besten rauskomme. 

Optimismus?
Ich weiß, dass es viele Menschen gibt, die so eine Pflegephase auch als anstrengend und belastend empfinden, gleichzeitig aber auch ungeahnte, positive zwischenmenschliche Erfahrungen machen. Jede Konstellation ist anders, und aus Erfahrung wird man klug. In meinem Alltag gibt es gute und helle Tage, und dunkle Stunden. Für irgendwas wird diese Situation gut sein, davon bin ich überzeugt, auch wenn das Ende meiner Mutterpflegegeschichte noch nicht in Sicht ist. Schauen wir also, was uns die Katze morgen wieder vor die Tür legt. Nach diesem Beitrag sollte es was Lustiges werden, oder zumindest etwas Schönes. 😊

27 mm | 1/17 s | f1,6 | ISO 2000 | Smartphone

#heimwärts  #Nacht
#Winter2023/24

Siehe auch: Ein Hauch von Blau, Laubbläser im WindHoppala..., Auf und Ab, Heute besonders..., Kundenorientierung oder: Wenn Blicke töten könnten, Zombie!?

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