Dienstag, 19. November 2024

Mehr Style für's Mutterhome

27 mm | 1/105 s | f1,6 | ISO 200 | Smartphone

#Eichhörnchentee auf #Pflanzenbasis
#Muttergeschichten

Öha! Das Wasser in der Eichhörnchentränke hatte sich übers Wochenende erstmals blaugrün verfärbt und sah beim morgendlichen Balkon-Check einigermaßen ungesund aus. Laub, Flügelsamen von Bäumen sowie eine halbierte Eichel ohne Schale: Woher kommt die grüne Farbe?
Ob ich mir dieses Rezept als Gesundheitstee oder Bio-Färbemittel notieren soll? Ich habe den Zaubertrank erst mal weggekippt, nicht ohne mich bei meiner Mutter zu erkundigen, ob die Eichhörnchen das noch getrunken haben. Sie bestätigte, dass zumindest einer der vier Nager keine Bedenken hatte, sich das blaugrüne Gebräu einzuverleiben - er lebt noch. Es ist wahrscheinlich derselbe, den es nicht stört, wenn die Amseln in der Schale baden. 😅
Ich weiß nicht, wo diese Viecher sitzen, aber sie müssen einen Späher haben. Ich erneuere das Buffet auf dem Balkon nicht immer zur gleichen Tageszeit, danach dauert es aber keine zwei Minuten, bis die Bande zum Frühstück anrückt. 😊

Meine Mutter hatte diesmal keinen Blick für den possierlichen Eichhörnchenzirkus. Ich war deutlich später eingetroffen als sonst, und sie verfolgte gebannt eine Sendung im Fernsehen, die gänzlich andere Hintergrundgeräusche verursachte, als das übliche Morgenprogramm. Der Ton war lauter als sonst, um nicht zu sagen: sehr laut. Die frenetische Musik war bis in die Küche zu hören, orchestral aber alles andere als klassisch - episch! Der Klang schwoll theatralisch an... (gleich springt der Nachbar durch die Wand?!) und löste sich schließlich in Jubelkreischen auf. Applaus erklang, dann herrschte Totenstille - und erleichtertes Aufatmen bei mir.

Nachdem ich mir nach dem Zahnarzttermin den empfohlenen starken Kaffee gebraut hatte, dachte ich: Was geht denn heute ab? Musik wie beim Gladiator? Das passt so gar nicht zum Muttergeschmack!
Ich analysierte das TV-Bild mit einem kurzen Blick, musste aber zweimal hinschauen. Den Sender kannte ich noch nicht - Sport 1. Zu sehen war eine lange Reihe junger Frauen (?) in weißen Hochzeitskleidern, auf Barhockern am rechten Bildrand aufgereiht; eine tänzelte gerade durch's Bild auf die Kamera zu. Was für ein Sport ist das? 😦

Die Szene erinnerte mich entfernt an Heidi Klums Topmodel, aber auch an Zwischen Tüll und Tränen. Dieses TV-Format auf VOX, in dem Heiratswillige in Begleitung von Freundinnen, Müttern und Großmüttern in einem Brautkleidladen tränenreich und hoch emotional diverse Kleidermodelle an- und ausprobieren, hatte meine Mutter eine ganze Weile regelmäßig angeschaut.
"Ein Kleid hässlicher als das andere!", hatte sie damals geurteilt, von den Bräuten ganz zu schweigen. Und jetzt das? Aber was? Im Hintergrund entdeckte ich den eingeblendeten Titel My Style Rocks. Aha.

Das nervenzerreißende Gezeter junger Frauenstimmen drang an mein Ohr, ich hörte eine sagen "Willst du hier jetzt mit Whataboutism anfangen?"
Bitte was? Whataboutism... ob meine Mutter das Wort schon mal gehört, geschweige denn verstanden hat? Ja, es gibt so viele Menschen, die sich  keine Hochzeit leisten können, geschweige denn ein Hochzeitskleid... Alle quasselten durcheinander. Wie gut, dass die Stimme der Moderatorin (Gülcan Kamps) der von Heidi Klum überhaupt nicht ähnelt. 😅
Es ist übergriffig, ich weiß, aber ich habe mir die Fernbedienung geschnappt, und den Ton etwas leiser gedreht - also auf "Normal". Montagmorgen sind generell schwierig, und mit einer neuen Schraube im lokal betäubten Unterkiefer erst recht.
"Was schaust du dir da an?", wollte ich von meiner Mutter wissen.
"Es war überall nur Politik", winkte sie ab, und musste gar nicht weiter ausführen, dass ihr das schon wieder zu blöd geworden war: Kanzlerschaulaufen mit Scholz, Haberlbeck und dem langen Dürren - nach einer Woche ziemlich out. "Die Mode interessiert mich", erklärte sie mir mit deutlich mehr Elan, und: "Letzte Woche haben sie Beine beurteilt. Und Schuhe. Jede Woche muss eine der Kandidatinnen gehen," und "es geht nur ums Geld!"
Okay, es ist also eine Art  Dschungelcamp-Supermodel Variante, heute in der Kategorie Hochzeitskleid, entfernt verwandt mit Big Brother, Bachelor und DSDS. Ich kenne diese Formate fast alle, aber nur vom Hörensagen. Mein Mann fragt gar nicht erst, wenn ich aus Gründen der medialen Allgemeinbildung bei einer dieser Sendungen versehentlich hängen bleibe. Die meisten Privatsender hat er inzwischen komplett aus unserer TV-Liste verbannt. Alles, was nur im Ansatz nach solchen Sendeformaten aussieht, schaltet er sofort ab oder um: "Das halte ich nicht aus, nicht mal eine Minute lang!", erklärt er dann. Was soll ich da sagen?, würde ich manchmal gerne erwidern, aber das ist vielleicht eine andere Form von Whataboutism. 😂 Ich gehe ja freiwillig ins Mutterhome, damit ich Takeo Ishi beim Jodeln zuhören oder mir eine dreißig Jahre alte Folge vom Musikantenstadl reinziehen kann... 😜 "Das waren noch Künstler!", findet meine Mutter, und "So eine Generation wie die jetzige hat es noch nie gegeben! - Warum sind die eigentlich alle so affig?" Fragen über Fragen...

Auch wenn es oft nervt: Für meine mediale Rundumkompetenz ist die meist unfreiwillige Konfrontation mit dem Mutter TV ein Segen. So bleibe ich zumindest ein bisschen auf dem laufenden, und erfahre aus erster Hand etwas über Sendungen mit den höchsten Einschaltquoten.
Ein kurzer Blick auf den Fernsehbildschirm genügte für eine grobe Hochrechnung: Diese Staffel von My Style Rocks dürfte noch mindestens sieben Wochen dauern, wenn jede Woche nur eine Kandidatin gehen muss. Genau durchzählen konnte ich nicht, weil die Bühne und die Protagonist*innen aus ständig wechselnden Kameraperspektiven gezeigt wurden. Das erzeugt Spannung, die Frage ist nur was für eine. 😉

Plötzlich - und für mich völlig unerwartet - erschien das Gesicht von Harald Glööckler.  Großaufnahme, frontal. Überlebensgroß blickte er kritisch ins Mutterzimmer. Er sah "not amused" aus, und ich versuchte mir gerade noch vorzustellen, was er sagen würde, wenn er dort meine Mutter sitzen sehen könnte... Filmriss in meinem Kopf.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich mag den Glööckler, bin nur immer wieder irritiert, wenn ich ihn sehe. Während ich noch wie hypnotisiert auf die üppigen, knallroten Lippen im Fernseher starrte, sagte meine Mutter: "Der sieht jetzt wieder besser aus", und untermauerte ihr Schönheitsjury-Urteil mit den Worten: "Die Haare auf seinem Kopf sind wieder voller geworden."
"Ich bin noch bei den Lippen", hörte ich mich langsam sagen, und jetzt konnte auch ich den Blick nicht mehr vom Fernsehbildschirm abwenden. Glööcklers Gesicht verschwand, noch bevor ich mir seine überdimensionale Brille, geschweige denn seine Frisur genauer anschauen konnte. Die Sendung lief weiter, die Jury kam zum Urteil, und Glööckler war der einzige, der nur einen von fünf möglichen Punkten für das soeben präsentierte Hochzeits-Outfit verteilte. Meine Mutter applaudierte johlend.
"Jawoll! Richtig, richtig!", rief sie voller Begeisterung, "der sagt wenigstens, wie es ist!"
Zu mir gewandt meinte sie: "Den hätte ich gerne als Pfleger! Da würde ich ganz schnell wieder gesund werden!"
Ich schaute sie in Zeitlupe an, warf einen prüfenden Blick auf den Glööckler, schaute meine Mutter erneut an und sagte nur noch: "Okay, geht klar."

Weiterführende Links

Keine Kommentare: