Montag, 7. März 2022

Experten widerspricht man nicht

Dieser Artikel ist Teil der Serie: Manipulationstechniken, die Sie kennen sollten.   

Methode 6:  Expertenmeinungen

Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse belegen... Sie kennen diese Sätze, auch ich verwende Referenzen und Links zu Wissenschaftsthemen. Als Laien müssen wir Experten vertrauen, die uns komplizierte Sachverhalte erklären. Das ist völlig in Ordnung, wenn wir uns auf diese Experten verlassen können.

Dass es "die Wissenschaft" als einheitliche Meinungsunion nicht gibt, wird spätenstens dann klar, wenn man verschiedene Studien zu einem Thema findet, die zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Das ist mitunter verwirrend, aber normal, denn es gibt verschiedene Blickwinkel auf wissenschaftliche Fragestellungen. Menschen machen Fehler, und Experten sind auch nur Menschen.

Man würde nun als Laie annehmen, dass der sogenannte wissenschaftliche Diskurs, also das Vergleichen und Abwägen, oder die Überprüfung der abweichenden Theorien dem Ziel dienen müsste, die Wahrheit über das untersuchte Thema herauszufinden. Dem ist nicht immer so. Deshalb gibt es sogenannte Metastudien, die alle verfügbaren Studien erneut zusammenfassen, doch auch bei diesem Wort ist Vorsicht geboten: Nur bei einer Systematischen Übersichtsarbeit wird nicht nur quantitativ und statistisch, sondern auch qualitativ (inhaltlich) nachgeprüft.

Wer zahlt, schafft an
Wissenschaftler:innen haben in der Regel Vorannahmen und Theorien, die sie in ihren Experimenten bestätigen oder widerlegen wollen. Noch banaler: Es gibt Auftraggeber, die die Studien finanzieren. Forschung, die von Geldgebern unabhängig ist, ist eher die Ausnahme. Darüber hinaus ist die Datenlage oft uneindeutig, und der Versuchsaufbau kann das Ergebnis in die eine oder andere Richtung drehen.

Die bekanntesten Beispiele für falsche oder gefälschte Studen findet man im Bereich von Ernährung und Gesundheitsthemen. Ein Glas Rotwein am Tag ist gut für die Gesundheit, hieß es irgendwann einmal. Oder: Was ist gesünder - Fett oder Zucker? Hier liegt das Problem schon in der Fragestellung.

"Auf den einen, der schon 1972 in seinem Buch Pure, White and Deadly (Pur, weiß, tödlich) vor Zucker gewarnt hatte, hörte kaum jemand: John Yudkin. 'Würde nur ein Bruchteil dessen, was wir über die Folgen von Zucker wissen, über irgendein anderes Lebensmittel bekannt, es würde sofort verboten', schrieb der Londoner Ernährungswissenschaftler. Zwar wurde sein Buch weltweit wahrgenommen und nachgedruckt. Doch Yudkin musste einen hohen Preis dafür zahlen. Bekannte Ernährungswissenschaftler taten sich mit der Lebensmittelindustrie zusammen, um seinen Ruf zu zerstören. Er starb 1995 als enttäuschter und größtenteils vergessener Mann." (Quelle: >Zeit, Die Zucker-Verschwörung) 

Ein Blick hinter die Fassade
Wissenschaftsmeldungen werden von PR-Agenturen lesergerecht aufbereitet und mit knackigen Überschriften medial verbreitet. Fast niemand liest die verlinkten Originalstudien, denn das ist knochentrocken, anstrengend, und wahnsinnig langweilig. Man muss sich mit dem Thema auskennen. Mein letztes Aha-Erlebnis hatte ich, als ich eine Meldung zum Thema 16:8-Fasten las. Das bringt überhaupt nichts, war der neueste Stand der Wissenschaft. Weil ich mit dieser Methode fast 10 Kilo abgenommen und somit eigene Praxiserfahrungen gesammelt hatte, las ich mir die Originalstudie durch. Erstens war der Versuchsaufbau der 16:8-Methode nicht angemessen, und zweitens wurde die Studie unter anderem von einem Getränkehersteller finanziert, der süße Zuckerplörre verkauft. Ja, die Zeit muss man sich nehmen, aber wer hat die schon? Die Nahrungsmittelindustrie hat eben kein Interesse daran, wenn die Leute dauerhaft weniger futtern.
Bei komplizierteren Themen braucht man Experten mit unterschiedlichen Herangehensweisen und Zugang zu verlässlichen Informationen. Wie man am Beispiel von Yudkin sieht, gibt es viele Möglichkeiten, unerwünschte Studien oder Forschende in den Hintergrund zu drängen. Das Pochen auf Informationshoheit (Methode 9) ist ein signifikantes Warnsignal.

Experten sagen wo es lang geht
Wie einflussreich die Rolle von Experten oder einer Autorität sein kann, zeigt das Experiment von Stanley Milgram aus dem Jahr 1962. Es belegt, dass nahezu jeder Durchschnittsmensch bereit ist, andere Menschen zu misshandeln, wenn ein als Autorität vorgestellter Versuchsleiter dies verlangt. Das Experiment wurde mehrmals wiederholt, und funktioniert noch heute: bis zu 90 Prozent* der Probanden verabreichten anderen Menschen Elektroschocks, obwohl sie deren Schmerzensschreie hörten.
*Dabei gab es signifikante Unterschiede im Gehorsam, je nachdem ob der Versuchsleiter im Raum anwesend war, oder die Anweisungen nur telefonisch erteilte. Waren die Autoritäten uneinig, machten die Leute bei der Folterei am seltensten mit. Besonders folgsam (90%) waren die Probanden, wenn zwei Autoritäten gleichzeitig auftraten, und beide einer Meinung waren. (>Variationen des Experiments).

Aus diesem Versuch wurde zunächst gefolgert, dass es sich um >blinden Gehorsam handle. Neuere Auswertungen zeigten jedoch, dass die Mehrzahl der Probanden angaben, sie hätten bis zum Ende mitgemacht, weil sie "einem höheren Ziel" gedient hätten, und der festen Überzeugung waren, etwas Gutes zu tun.

Die neue Interpretation lautet also: Gewalt entsteht, wenn Bösartiges als tugendhaft dargestellt (oder wahrgenommen) wird. Geschlossenheit im Auftreten, wie es in der Politik oft demonstriert wird, lässt Autoritäten kompetenter erscheinen. Auf die Wahrnehmung kommt es an, nicht auf die Fakten. 😉

Experten, die keine sind

Doktortitel beeindrucken: >Gert Postel war  Postbote und Hochstapler: Er arbeitete jahrelang mit gefälschten Zeugnissen als Dr. Dr. Bartholdy, Amtsarzt und Oberarzt, und verfasste psychiatrische Gutachten für Gerichte. Er ist kein Einzelfall.
Dass auch viele Gütesiegel käuflich sind, haben Sie vielleicht schon gehört.  Unternehmensberatungen und Rating-Agenturen haben einen hervorragenden Ruf - bis ein unlängst geprüfter Staudamm bricht, oder "toxische Wertpapiere" auftauchen... Solche "Ausrutscher" führen dazu, dass das Expertentum nicht mehr so angesehen ist, wie es einst war. Ob daran auch gezielte Rufschädigung wie im Fall Yudkin mit im Spiel ist, lässt sich für den "Normalverbraucher" schwer nachvollziehen. Also was tun?

Experten haben natürlich mehr Fach- und Hintergrundwissen, mehr Erfahrung als Laien und ich unterstelle ihnen, dass sie aus ihrer persönlichen Warte nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Ihre Einschätzungen zu Rate ziehen ist gut, eine zweite oder gar dritte Meinung ratsam.

Was mir als Wortklauberin noch auffällt: Es wird häufig von Expertenmeinungen gesprochen. Bilden Sie sich dazu Ihre eigene. Warten wir, ob dafür bald ein besseres Wort erfunden wird. Expertise ist schön. Das ist das "Gutachten eines Experten", kann auch von einer Expertin stammen, lässt aber die gutachtende Person geschickt hinter dem Gutachten verschwinden. Es klingt weniger nach einer Meinung oder Einschätzung. Den Begriff "Schlechtachten" gibt es momentan noch nicht, auch wenn das eine oder andere Gutachten die zu begutachtende Sache für schlecht erachtet. 😉 

Siehe auch: Pass auf, was du denkst!Appsala

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