Freitag, 22. September 2023

Die Wahl der Qual

27 mm | 1/180 s | f1,6 | ISO 50 | Smartphone

#Wahlplakate  #Muttergeschichten

Im Mutterhome sind gestern die Briefwahlunterlagen eingetroffen. Meine Mutter wollte diesmal tatsächlich wählen, und es ist die erste Briefwahl in ihrem Leben. So erweitert sich mein Portfolio, und ich kann meinem Lebenslauf den Punkt "Wahlassistentin" hinzufügen. Hilfsperson klingt so schauerlich.
Der erste Lachanfall meiner Mutter entlud sich schon beim Entfalten der überdimensionalen, wirklich meterlangen Wahlzettel für die Landtags-und Bezirkswahlen. Einer blau, der andere weiß, jeweils zwei, ein kleiner und ein großer. Die großen passen gar nicht auf einen Tisch, die muss man am Fußboden ausbreiten, oder sorgsam falten, wenn man dazu körperlich und geistig in der Lage ist. Wenn nicht, braucht man eine Hilfsperson. Tädäääh....

Sie haben eine Stimme, steht groß und breit oben links auf der Wahlzetteltapete. Immerhin das ist diesmal einfach. Es gibt ja auch Wahlen, bei denen man ich weiß nicht wieviele Stimmen auf verschiedene Kandidat*innen verteilen kann. Da muss man gut rechnen können.

Auf der uns vorliegenden Wahlzetteltvariante findet sich dann eine Liste in Spalten mit gefühlt dreitausend Kandidat*innen, von denen man sich eine Person aussuchen, und diese eine Stimme vergeben kann. Meine Mutter breitete das Monsterpapier auf ihrem Schoß aus, so gut es eben ging. Es war so groß wie ihre Decke, rechts und links hingen die Papierenden über die Lehne ihres Sessels. In diesem Setting wirkte sie wie ein Zwerg, aber das Wort darf man nicht mehr benutzen. Klein sah sie aus, das ist besser. Sie beugte sich interessiert über die Liste, um ihren bevorzugten Kandidaten zu finden, aber der stand nicht auf dem Wahlzettel. Demokratie in praktischer Ausübung ist manchmal kompliziert.
Weil sie mit ihren Händen sehr grobmotorisch ist, machte ich mir Sorgen, dass meine Mutter die Wahltapete aus Versehen zerreißt, dann wäre sie ungültig, und die ganze Mühe umsonst. Ziemlich zerknüllt und verknittert sah der Wahlzettel an den Rändern schon aus, also nahm ich das wertvolle Demokratieobjekt erst mal wieder in meine Obhut. 

"Himmelvater nein! Das ist ja der Wahnsinn! Schau dir das an! Da musst du einen Brief an den Herrn Söder beilegen", ächzte meine Mutter. "Wie soll man das denn als behinderter Mensch schaffen, so einen Zettel auszufüllen! Ich kann ja nicht mal lesen was da drauf steht, das ist ja alles so klein gedruckt!"
Ich habe sie nicht gefragt, ob ich ihr alle Namen vorlesen soll, ich bin ja nicht des Wahnsinns knusprige Beute. Wir haben uns auf die Spalte der gewünschten Partei beschränkt, und dann hat sie ihre Kandidaten ausgesucht. Der Wille ist frei, und wenn ich etwas anderes ankreuze als das, was sie mir sagt, mache ich mich strafbar. Es sind Momente, die meine Mutter genießt.

"Wie kriegt man denn dieses Ungetüm in den kleinen Umschlag rein?", war ihre nächste Frage. Zusammenfalten. Das steht auch ausdrücklich in der Bedienungsanleitung, die den Briefwahlunterlagen beiliegt. Anscheinend hatten sich andere Wähler*innen auch schon mit dieser Frage beschäftigt. Es ist kein Hexenwerk, vielleicht ein bisschen Origami Faltkunst, passt aber rein, wenn man gut gearbeitet hat.
"Muss ich jetzt das Porto bezahlen", wollte meine Mutter wissen, "oder übernimmt das das Wahlamt?"
Da konnte ich sie beruhigen: Kein Porto. Ich musste die Tapeten nur in ihrem Sinn ausfüllen, zusammenfalten, in die richtigen Kuverts stecken, und zum Briefkasten bringen. Und natürlich als Hilfsperson unterschreiben. Eine Vollmacht beilegen muss man nicht. Das wäre sonst auf dem kleingedruckten Beipackzettel vermerkt gewesen.

"Wie machen die das denn mit den Leuten in den Altenheimen", fragte meine Mutter weiter. "Soll da vielleicht das Pflegepersonal mit den Alten die Zettel ankreuzen? Das ist doch unmöglich!"
Dass generell überlastetes Pflegepersonal die Zeit hat, mit alten Menschen Wahlzettel auszufüllen, bezweifle ich auch.
"Wozu braucht man sowas überhaupt?", schnaubte meine Mutter. "Da reicht doch ein Blatt Papier, wo man den einen Kandidaten ankreuzt, den man haben will. Warum gleich vier solche Dinger, und dann auch noch sowas!" Sie meinte das XXL-Format, und schüttelte verständnislos den Kopf.
Um zu wählen muss man keinen Wählerführerschein machen, und sie ist diejenige, die den ganzen Tag fernsieht, und sich sogar Bundestagsdebatten anhört. Eine Wahl per Bierdeckel käme ihr trotzdem sehr entgegen. Einfach die Kandidatengesichter drauf drucken, und dann den passenden Deckel zurück ans Wahlamt schicken?  😅
Wenn es nur nach den Slogans auf den Wahlplakaten ginge, gäbe es für jemanden wie mich nur eine Partei: die mit den schrägsten Sprüchen. Ob man damit außer dem Lachzentrum etwas in der Welt bewegt, ist eine andere Frage. Dabei sein ist alles.

179 mm | 1/20 s | f3,4 | ISO 100 | Smartphone

 

Siehe auch: Unterhaltsam, Pornopapst, Schwammerlsarg, Zippi-Zappi, HausmittelHeute schon gezaubert?, Wenn Unbeteiligte beteiligt sind, Sommerkonzert, Da muss ich ja denken!, WeltuntergangWetter, Fußball und Champagner Hitze-Opfer, 4711: ChatGTP im Mutterhome, Flugtaxi bitte! 

Nachgereicht
(siehe Kommentare)

27 mm | 1/11.764,7 s* | f1,6 | ISO 50 | Smartphone

*kein Witz. Das muss irgendwie am Motiv liegen.😆

Siehe auch: Briefwahl, Memento Mori

2 Kommentare:

Hans hat gesagt…

179 mm | 1/20 s | f3,4 | ISO 100 | Smartphone
Copy/Paste?
ein Test .... ob´s jemandem auffällt?
mfg

betrachtenswert hat gesagt…

:-D
In diesem Fall stimmen die Angaben. Um das Plakat von der Brücke aus zu fotografieren, habe ich tatsächlich mit dem Smartphone gezoomt. Es wäre noch mehr gegangen, aber die Bildqualität fällt dann so deutlich ab, dass man es schon auf dem Monitor sieht.
Der Plan war, "irgendwann" noch runter zu steigen, um das Plakat aus geringer Distanz zu fotografieren, oder den Slogan woanders zu finden. Bis zum ~8. Oktober wäre dazu noch Zeit. ;-)
Im Artikel "Wenn die Zeit reif ist" hatte ich schon mal über meine Zoom-Erfahrungen geschrieben.
https://betrachtenswert.blogspot.com/2023/03/wenn-die-zeit-reif-ist.html