Donnerstag, 7. Juli 2022

Stadtmöblierung

Da stehen sie und sind hässlich. Manchmal kommt ein Sprüher vorbei und tobt sich aus. Manchmal dienen sie als Werbeflächen und sind mit einem Wechselrahmen bestückt, der in regelmäßigen Abständen von neuen Veranstaltungen oder Produkten kündet. Manchmal fährt ein Auto dagegen, dann hat die Nachbarschaft kein Internetz. Die hässlichen grauen Kästen am Straßenrand: Was steckt da drin? Es ist gar nicht so banal, wie es scheinen mag.
"Sie sind Teil der Telekommunikations-Infrastruktur und werden benö­tigt, um Telefon, Internet und TV-Signale in die Häuser zu bringen. Aber auch die Wasser­ver­sor­gung, die Deut­sche Post und Ener­gie­ver­sorger haben in diesen grauen Kästen ein Zuhause. Ampeln würden nicht funk­tio­nieren und Stra­ßen­bahnen ohne sie nicht fahren. Sogar LTE und WLAN wird inzwi­schen durch solche Kästen ermög­licht." (Quelle: Teltarif.de) Was mir beim Fotografieren oft auf die Nerven geht, ist also extrem wichtig und #KritischeInfrastruktur. Die grauen Kästen tauchen in so vielen Variationen auf, dass sie für mich zu einem neuen fotografischen Sammelthema geworden sind. 
 


Störende Elemente im Stadtbild?
Wenn man die Nebensache zum Hauptobjekt der Betrachtung macht, gibt es wieder eine ganz andere Art von Vielfalt zu entdecken. 😏 Es ist wie mit all diesen Kleinigkeiten, an denen wir täglich achtlos vorbeilaufen: Bushaltestellenhäuschen, Ampeln, Straßenlaternen, Mülltonnen, Glascontainer, Satellitenschüsseln, ... Manches davon wird früher oder später ein Alltags-Design-Klassiker, so wie die Blech-Aschentonnen mit losem Deckel, die es in meiner Kindheit noch gab.

Modernisierung und Zeitgeist
Wir meinen alles bliebe weitgehend gleich. Oh nein. Zumindest das habe ich im Lauf meiner fotografischen Entwicklung gelernt: Wer immer nur "zeitlos schöne" Fotos macht, hat wenig oder nichts in der Hand, wenn es um die Frage geht: Wie sah das hier vor fünf oder zehn Jahren aus? Das urbane "Klein-Mobiliar" spielt eine wichtige Rolle. Das war dann mal weg, und die Erinnerung verblasst.
Telegrafendrähte!? Fernsehantennen? 😅 Bei hässlichen Dingen ist es nicht schade, wenn sie verschwinden. Das ist ein gutes Argument. Wir schauen uns lieber schöne Sachen an. Manche Fotograf:innen spezialisieren sich auf seltene Tier- oder Pflanzenarten, andere auf Naturschutzgebiete. Was schön ist, weckt mehr Sympathie und findet mehr Unterstützer:innen, wenn es um den Erhalt geht. Da fällt mir gerade ein, dass das Stadion an der Grünwalder Straße erneut aus- oder umgebaut werden soll. Vor knapp 30 Jahren wurde der Abriß diskutiert. Da stand ich noch in der Lichterkette, um zu protestieren. Jetzt nimmt die Bürgerbewegung gegen das Candid-Tor Fahrt auf, Ausgang ungewiss.

"Leben im Transit"
Im Fotonanny-Blog habe ich 2019 zu den Veränderungen "meines" Stadtviertels eine umfangreiche Bildstrecke ins Netz gestellt, das Langzeitprojekt Baustelle, bei dem ich über mehrere Jahre hinweg die Bauarbeiten am ehemaligen Agfa-Werksgelände in Obergiesing dokumentiert hatte.
Die Neubauten am ehemaligen Osram-Gelände in Untergiesing/Siebenbrunn sind gerade fertig, und das neue "Quartier" trägt den schönen Namen "Living Isar". Direkt gegenüber, auf der anderen Seite des Mittleren Rings dauern die Arbeiten noch an. Beim Projekt "Candid-Tor" geht es um den dritten großen architektonischen Eingriff auf kleinstem Radius. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Es gab und gibt so viele Großbaustellen in München, dass ich gar nicht mehr hinterher komme. Da wird im Zeitraffertempo eine neue Welt aus dem Boden gestampft, nachverdichtet und gentrifiziert.

Dahoam is dahoam?
Wenn ich heute an manche Orte gehe, komme ich mir vor wie ein Alien, der aus dem Kryo-Schlaf geweckt wurde, und in der Fremde eine Bestandsaufnahme machen muss. Dabei rede ich hier nur von Plätzen, die ich zu Fuß oder mit dem Fahrrad im Alltag regelmäßig erlebe, in einem Radius von gut drei Kilometern. In anderen Stadtteilen war ich in den letzten drei Jahren fast gar nicht unterwegs. Inzwischen fühlt sich meine eigene Heimatstadt zunehmend fremd an. Mal sehen, was ich dagegen tun kann. Fotografieren ist eine erprobte Methode. Schauen wir, ob sie diesmal auch hilft.

Zukunftsmusik
Wenn ich einen Moment darüber nachdenke, wie es Leuten ergehen muss, die sich im 20. Jahrhundert haben einfrieren lassen, um im 22. Jahrhundert wieder aufgeweckt zu werden... dann würde ich sagen: Ne, echt nicht. Da suche ich mir lieber ein Stargate in ein anderes Universum. Ich glaube ich weiß auch schon, welcher dieser grauen Kästen das größte Potenzial hat, mich dorthin zu beamen: Feldversuch. Sollte ich über Nacht verschwinden: Suchen Sie mich dort. 😁😎

Siehe auch:  Explosive Nachbarschaft, Tanz mit der Vergänglichkeit, Design-Klassiker der Zukunft, Stadtentwicklung live miterleben, Windows 22-01-04, Standhaft, Dahoam is dahoam, Witzbolde am Werk, Eindeutig Neo-Rokoko, Stadtverschandelung, Mobiliar, Oh Valentine...

Fotonanny-Blog: Langzeitprojekt Baustelle

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