Ja was steht denn da beim Hinterhofflohmarkt auf dem grauen Kasten? Das erfolgreichste Reisebuch der Welt! 1000 Orte, die man gesehen haben sollte, bevor man stirbt. Der Titel ist wahrlich krass. Er erinnert uns an unsere Sterblichkeit. Tabubruch! Das zieht, und wie! Oh Himmel hilf, wo ist der nächste Jet, wann kann ich boarden? Wann und wie kann ich die neu beschriebenen, neu bereisten, neu geträumten Reiseziele erreichen? In diesem Buch gibt es 200 neue Ziele, 28 neue Länder, 256 zusätzliche Seiten. Was ich da alles verpasse, wenn ich mich nicht sofort auf den Weg mache! Nein, ich will nicht sterben, und schon gar nicht, bevor ich das nicht alles gesehen, fotografiert und plattgetrampelt habe!
Aber wie soll ich das bloß schaffen? Tausend Reiseziele! Wenn ich jedes Jahr nur dreimal Urlaub machen kann, dann brauche ich ja schon rund 333 Jahre, um alle Destinationen aus diesem Buch abzuarbeiten! Ich könnte vielleicht mehrere Reiseziele in einer Reise zusammenfassen, und überall nur einen Tag hinfahren. Oder ich nehme mir sechs Jahre Urlaub... dann hätte ich schon mal ungefähr die Zeit. Das mit den Flugtickets, den Hotelübernachtugen und den kleinen Snacks und Getränken unterwegs muss ich nochmal durchrechnen. Wenn ich meine Wohnung untervermiete, könnte es klappen mit der "Lebensliste für Weltreisende". 28 neue Länder sind da drin! Hab ich was verpasst?
Ach so. Das sind nicht neu entstandene Länder, sondern nur Länder, die vorher noch nicht in diesem Buch beschrieben worden sind. Puh, da bin ich aber erleichtert. Ich dachte schon, ich wäre geopolitisch und geografisch nicht mehr auf dem aktuellen Stand.
Was sagt denn das Inhaltsverzeichnis? München kann ich abhaken, das ist gut. Saudi Arabien... da gibt's viel Sand, da muss ich vielleicht nicht unbedingt hin. Ukraine... passt gerade nicht so gut. Russland auch nicht. Ob ich in die freien palästinensischen Gebiete möchte? Öhm. So prinzipiell interessiert mich das alles, aber ich fange an zu verstehen, warum das Buch in Originalfolie verschweißt auf dem Flohmarkt gelandet ist.
Das Blöde an solchen Reisebüchern ist, dass man sie bei weltpolitischen Veränderungen jedes Mal überarbeiten muss. Stehen tolle neue Reiseziele erst mal in so einem Bestseller, ist es schnell vorbei mit günstigen Hotels, einsamen Stränden und unberührten Landschaften. Vielleicht sollte man solche Tipps als "Fahr da gar nicht erst hin-Lektüre" nutzen? Unbedingt aufs Erscheinungsjahr schauen! Liegt es zwanzig bis vierzig Jahre in der Vergangenheit, lohnt sich vielleicht eine zweite Reise.
Schnell mitgenommen, nie gelesen.
Wussten Sie, dass die meisten Bestseller nur wegen ihres Titels gekauft werden, und weil sie so gut in Griffweite liegen? Ein Buch ist immer ein tolles Geschenk, das macht was her, auch wenn die meisten ungelesen im Regal, auf dem Flohmarkt oder im offenen Bücherschrank landen.
Für Verlage sind Bestseller natürlich klasse. Für die Autor*innen auch, denn von solchen Titeln kann man eine Zeitlang die Miete bezahlen, während man am nächsten Buch arbeitet. Dann muss man wieder an die alten Werke ran, ein paar Kapitel streichen und ein paar neue finden. Das Überarbeiten macht Arbeit und ist Arbeit. Obendrein steckt sehr viel Herzblut in den Zeilen. Darum wollen Autor*innen auch, dass ihre Bücher gelesen werden. Bestsellerliste ist nicht Bestsellerliste. Es wird nicht überall gezählt, wieviele Bücher tatsächlich verkauft, und schon gar nicht, ob sie danach wirklich gelesen wurden.
In diesem Fall tut es mir leid, bei den Reisezielen gehöre ich nicht zur relevanten Zielgruppe. Meine ToDo-Liste im Mutterhome enthält schon 100 Dinge, die ich jeden Tag erledigen muss. Am Wochenende ruhe ich mich aus, also bleibt für die 1000 Orte nicht so viel Kapazität übrig. Ich hoffe lediglich, dass ich noch ein paarmal in dieselben Länder und an dieselben Orte fahren oder fliegen kann, die mir von früheren Reisen her sehr am Herzen liegen. Vielleicht kann ich danach sogar noch neue Orte entdecken, bevor ich zu träge oder unbeweglich werde, um mich auf eine beschwerliche Reise einzulassen. So ein Buch brauche ich jedenfalls nicht, um Reiseziele zu finden. Das ist vermutlich Lektüre für Leute, denen vor lauter Langeweile der Himmel auf den Kopf fällt. Noch so jung und alles schon gesehen? Tauschen wir für eine Woche. 😆
Länder sammeln?
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich find's gut und wichtig, die Welt und die Menschen hier und anderswo mit allen Sinnen selbst zu erleben. Das ist was anderes, als auf dem Sofa zu liegen, eine Reisedoku zu verfolgen, und auf die Stopp-Taste zu drücken, wenn man aufs Klo muss. Im echten Leben muss man womöglich hinter'n Busch, und dort lauert das echte Krokodil, das auf dem Fernsehschirm in Nahaufnahme so faszinierend aussieht. Also nein: ich muss nicht überall live dabei sein. Safari im HD-TV ist fantastisch. Auf dem staubigen Verdeck eines Jeep ist es strapaziös und visuell ernüchternd. Es sind auch diese Diskrepanzen zwischen Schein und Sein, die den Wert des Reisens ausmachen. Weniger ist mehr.
Ich kannte mal jemanden, der hatte eine Weltkarte an der Wand. In jedem Land, das er schon bereist hatte, steckte eine Stecknadel. Wir waren jung und seine Weltkarte war schon ziemlich gut bepinnt. Das hat mich schon beeindruckt. Ich glaube für so jemanden wäre das 1000-Orte-Buch ein tolles Geschenk, und sei es nur um zu überprüfen, ob schon alles erledigt, und was noch im Programm ist. Fliegt ja dauernd irgendwas raus, wenn Kulturgüter in die Luft gesprengt werden, oder Einheimische auf der Flucht sind. 😒
Was steht denn so auf Ihrer "Lebensliste"? Sind es Ziele für "Weltreisende" oder ist Ihr ganzes Leben eine einzige, große Reise? Wohin auch immer diese führen mag: Ich wünsch' ich eine gute Durch- und Weiterfahrt. Halten Sie unterwegs immer wieder inne, um den An- und Ausblick zu genießen.
Siehe auch: Buchgestöber: Atlas der Erlebniswelten, Andersherum betrachtet, #Reise, Materie bindet, Alter Krimskrams, Festplatten Feng-Shui, Die Löffelliste
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