Samstag, 17. September 2022

Heissassa Tirallala...!

Ich sitze gemütlich auf dem Sofa und denke: Na? Es ist ganz schön kalt und ungemütlich geworden seit gestern: Leichte Regenschauer, Wind, und zum ersten Mal Nachttemperaturen um die 10 Grad, gemessen bei uns am Außenfensterbrett. Geh ich Joggen oder bin ich faul? Die ungemütliche Kälte draußen ist ein gutes Argument drinnen zu bleiben, und mir einen gemütlichen Tag zu machen. Daran können auch die kurzen sonnigen Zwischenepisoden nichts ändern, während die dicken weißgrauen Wolkentürme am Panoramafenster vorbeiziehen. Ich sehe ganz genau, wie die Bäume im eiskalten Wind wackeln. Brrr.

Was findet das elektrische Schaf über den heutigen Auftakt zum lokalen Großereignis?
Die Frankfurter Allgemeine hat gerade die neuesten Infos, und meldet um kurz vor 10 Uhr, dass auch heuer wieder viele Menschen "seit dem Morgengrauen in langen Schlangen ausgeharrt hatten, um einen guten Platz in einem Bierzelt zu ergattern. (...) Viele tranken schon seit den frühen Morgenstunden vor, und warteten teils seit 5.00 Uhr in Dirndl und Lederhose vor dem Festgelände. Schon Stunden vor dem Anstich waren einige Wartende sichtlich betrunken."

Ja, das hält man nur aus, wenn man besoffen ist. Das Festbier zur finalen Betäubung der Denkzellen im Gehirn gibt es erst ab 12 Uhr, wenn der jeweils amtierende Oberbürgermeister das erste Faß angestochen hat, und den Zauberspruch O'zapft is! ins Mikrofon ruft. Wir hören die Böllerschüsse danach, auch durch's geschlossene Fenster.
Nach zwei Jahren Corona-Pause ist es nicht (nur) der Durst auf Bier, sondern wohl eher die Gier danach, endlich mal wieder die sprichwörtliche Sau rauszulassen. Das war immer schon so: "München im Ausnahmezustand". Für mich ist das Oktoberfest eine zwiespältige Angelegenheit. Vernunftbegabte Wesen mit einem anders gelagerten Sinn für Genuss würden sich, besonders an einem kalten Tag wie diesem, zuhause einen Tee aufbrühen, oder einen leckeren Capuccino schlürfen. 

Dabei sein ist alles!?
Die Wiesn-Eröffnung war stets ein kultiges "Event", bei dem manche einfach dabei sein müssen:  Schlange stehen und warten, bis es endlich los geht. Es ist wie beim Verkaufsstart neuer Elektronikgeräte, die man unbedingt als erster haben muss. Wir sind so cool und mit dabei! - und heuer anschließend garantiert erkältet. Da braucht's noch nicht mal eine Pandemie. Manche Erfahrungen muss Mensch selber machen. Das Immunsystem sagt Dankeschön, wenn man stundenlang friert. Im Dirndl... Zumindest gegen die Blasenentzündungen werden weder ein Selbsttest noch eine Corona-Schutzmaske etwas ausrichten können. Vielleicht hilft das Bier - es spült durch.

Es sind, laut Pressemeldung, die "überwiegend jungen Besucher", die in den Warteschlangen vorglühen. Moderne Rituale, die bescheuert anmuten, und noch nie ohne Risiken und Nebenwirkungen waren. Verbieten müsste man das, nicht wahr? Gerade jetzt, in dieser Lage! Hm. Da hätte man auch das Konzert von Helene Fischer mit 130.000 Zuschauern im August absagen müssen, und eine Menge mehr. Haben Sie sich im Sommer nicht auch das eine oder andere Mal gefreut, dass man endlich mal wieder ein bisschen was erleben und unternehmen konnte? So ein bisschen mit Maß und Ziel wenigstens. Es ist schwierig mit der Vernunft, darum braucht es wohl diese vielen Verbote. Vor allem ist es paradox: Ich stelle mir gerade vor, wie die Oktoberfestbesucher erst mit Masken in der U-Bahn dicht gedrängt stehen, sich dann den Lappen vom Gesicht reißen, und in die Bierzelte stürmen. Abends fahren sie dann mit Maske wieder nach Hause. Rülps! Es wirkt auf mich wie eine Science Fiction Komödie, aber ich weiß: Da kann nicht jeder lachen.

Überlastete Notaufnahme...
Bibbernd in der Kälte stehen und so tun, als wäre es das Geilste auf der Welt, und am nächsten Tag mit dickem Hals in die Notaufnahme eines Krankenhauses gehen, weil die Hausärzte sonntags geschlossen haben. Das habe ich 2015 live miterlebt, als ich ausgerechnet am ersten Wiesn-Wochenende eine schwere Blinddarmentzündung hatte. Das Klinikpersonal schickte die verkaterte und verschnupfte Patientin mit einer Packung Antibiotika nach Hause, während sich die Ärzte im Behandlungszimmer um einen schwer gestürzten Radfahrer, und eine ebenfalls gestürzte und total verwirrte alte Frau bemühten. Schon damals volles Haus, der akute Blinddarm in der Warteschleife, höllische Schmerzen.

Die "Wiesn-Grippe" war in München eine jährlich wiederkehrende Begleiterscheinung des Oktoberfests, die halbe Stadt erkältet, oder mit irgendwas infiziert. Ich bekomme gerne einen leichten Herpes am Mundwinkel, wenn ich im Biergarten oder Restaurant ein schlecht gespültes Glas erwischt habe. Mein Mann kriegt das nicht, auch wenn wir aus dem gleichen Glas getrunken haben. Das unangenehme Ziehen ist bei mir nach drei Tagen vorbei, und die letzten fünf Jahre bin ich komplett ohne irgendwelche Infekte durch's Leben gekommen. Jetzt bin ich wirklich gespannt, wie sich die Lage in den nächsten 16 Tagen entwickelt. Drei Wochen selbstgewählte prophylaktische Quarantäne? Kann man freiwillig tun, wenn man auf Nummer Sicher gehen will.

Jetzt gibt's erst mal einen Tee und nachher schau' ich im Fernsehen zu, wie der Herr Reiter das Faß aufmacht. Karl Lauterbach gefällt das sowieso nicht, und vom Herrn Söder hab ich komischerweise schon lange nix mehr gehört. Muss an meiner Medien-Vermeidungsstrategie liegen. Zumindest wird meine Medien-Quarantäne durch das O-Fest heute kurzfristig unterbrochen.

Siehe auch: Reizüberflutung, O'zapft is!, Wiesn 2016: Nein danke!, ZerknautschtBetreutes Staunen, Altweibersommer im Anmarsch, Kopflos, Neulich in Babylon, Hilfeeee!, Sleepshirt oder Businessjogger?, Umfunktioniert, Chaos in der City, Verspiegelt

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