Freitag, 17. Mai 2024

Ein Hurz! aufs Wetter

117 mm | 1/640 s | f3,8 | ISO 80 | Nikon Coolpix P7700

#Wetter #Meteorologie #Muttergeschichten
#Frühling2024

"Es ist Winter!!", rief meine Mutter aus ihrem Zimmer, und als wollte mein Körper sie in ihrer subjektiven Wahrnehmung der Jahreszeit bestätigen, musste ich im gleichen Augenblick heftig niesen.
"Siehst du, siehst du! Ich sag es dir!", rief sie in den Flur. "Es ist kalt, und es ist dunkel!"
Heute hatte ich mir zum Fahrradfahren tatsächlich wieder einen leichten Schal umgeworfen, und der Fahrtwind fühlte sich, trotz geschlossener Regenjacke, ziemlich fröstelig an. Zuvor hattte mein Mann schon erklärt, dass er ja nichts gegen das Wetter habe, aber "immer diese Temperatursprünge", grummelte er, "da muss man ja fast schon wieder heizen!"

Alle warten auf den Sommer, ja wo isser denn? Es ist (erst) Mai, und war da nicht irgendwas mit Eisheiligen und Schafskälte? Der Termin für die Kalte Sophie ist jedes Jahr am 15. Mai, erklärt das Internetz, und die Bauernregel dazu lautet: "Die kalte Sophie bringt zum Schluß, ganz gern noch einen Regenguß". Ja Bingo, das passt. Gestern hatte ich noch frohen Mutes die ersten Zimmerpflanzen auf den Balkon ausgelagert, heute überlege ich schon wieder, ob ich sie doch nochmal reinholen soll, vor allem, wenn ich lese: "Oft hat die Sophie Frost gebracht und manche Pflanze totgemacht." 😬
Nein, mein schönes Elefantenohr mit den mittlerweile zehn großen Blättern bekommt diese Eisbraut nicht in ihre Krallen! Die Buntnesseln halten dieses Auf und Ab wahrscheinlich aus.

Sophie ist die einzige weibliche, und die letzte der insgesamt fünf Eisheiligen, die alljährlich vom 11. bis zum 15. Tag des "Wonnemonats" aufmarschieren. Kennen Sie alle fünf? Sie heißen, in der Reihenfolge ihres Erscheinens, Mamertus, Pankratius, Servatius und Bonifatius. Schon allein an ihren Namen lässt sich erkennen, dass sie ziemlich alt sein müssen, und das ist auch so: Sie gehen zurück auf das dritte bis fünfte Jahrhundert. Ist das im übernächsten Jahrtausend überhaupt noch zeitgemäß? 😉

Nicht heilig, aber beliebt
Heute würden die Eisgrimmigen vielleicht Luca, Finn, Henry und Noah heißen, und Sophie wäre Emilia. Im ersten Quartal 2024 wurden diese Namen hierzulande laut einer angeblich repräsentativen Erhebung am häufigsten vergeben, wenngleich nur "etwa 17 Prozent aller Geburtsmeldungen" bei dieser Auswertung herangezogen wurden. Es gibt keine offiziellen Statistiken dazu. Was ist mit den anderen 83 Prozent? Bei einer Wahl wäre das doch eher die (absolute) Mehrheit, die bei dieser Auflistung aber gar nicht in Erscheinung tritt. Bei nicht repräsentativen Umfragen liegen ganz andere Namen vorne...
Trau keiner Statistik, die du nicht selbst erstellt hast, und hüte dich trotzdem vor falschen Schlussfolgerungen. Nur weil ich keine Polarlichter gesehen habe, heißt das nicht, dass es keine gegeben hat. Es ist schon blöd: Da haben wir so viele Informationen, und trotzdem viele Wissenslücken. Und es kommt noch besser:

Terminverschiebung!
"Die Namenstage [der Eisheiligen] beziehen sich auf den julianischen Kalender. Wegen der Verschiebung durch die gregorianische Kalenderreform 1582 sind die mit den Namenstagen verknüpften alten Bauernregeln heutzutage erst eine gute Woche später anzuwenden, als der Gedenktag des jeweiligen Heiligen liegt." In gut recherchierten Eisheiligen-Artikeln müsste das als Hinweis dabei stehen, aber das ist dann schon wieder so ein Gscheidhaferl-Ding. 😏
Heißt das jetzt, dass die traditionelle Mai-Eiszeit gerade erst beginnt, und frühestens nächste Woche beendet ist? Gehen die Eisheiligen wegen geänderter Kalenderberechnungen gleich in die Schafskälte über? Die wäre ab dem Juni zu erwarten, und der ist ja auch schon bald. Ich sehe schon... der Winter endet gar nicht.

Beides, sowohl die Eisheiligen, wie auch die Schafskälte, werden als meteorologische Singularität bezeichnet. Das sind "Wetterlagen, die zu bestimmten Zeitabschnitten im Jahr mit hoher Wahrscheinlichkeit auftreten und eine deutliche Abweichung von einem glatten Verlauf der Wetterelemente (Temperatur, Niederschlag usw.) darstellen, aber im langjährigen Mittel liegen." Also ist alles ganz normal, wenngleich ungewöhnlich, oder so ähnlich? 😵
Bauernregeln sind genauso alt wie die Eisheiligen, sie gelten als unwissenschaftlich, sind bestenfalls regional gültig, und nix Genaues weiß man nicht. Die ans dritte Jahrtausend angepasste Regel lautet: Die Welt ist dynamisch, und man darf das alles nicht so eng sehen. Hauptsache das Internetz läuft.

Mutterlogik
Wenigstens die ist eindeutig: Wenn meine Mutter nicht mehr friert, dann ist Sommer. Das kann dann auch im Dezember sein, oder im Februar. Als kluge Spezies passt man sich an die Umweltbedingungen an, hab ich irgendwo gelesen, denn das soll die Überlebensschancen erhöhen.
Als Beleg für dynamische Veränderungen erlebte ich heute eine andere Singularität: Meine Mutter hatte das ZDF Morgenmagazin eingeschaltet! Es war kurz vor neun, und ein Sänger betrat die Bühne. Im Hintergrund stand ein schwarzglänzender Flügel von Steinway & Sons, alles war sehr schlicht gehalten. Also keine (nackigen?) Tänzer mit engen roten Höschen wie beim ESC neulich. Als der gutaussehende junge Mann im Moma anfing zu singen, fing meine Mutter an zu lachen.
"Schau dir das an!", prustete sie, "das musst du hören!"
Sie hatte noch kein Messer in der Hand, nur die TV-Fernbedienung, die bei uns intern "die Schiene" heißt.
Ich hörte den TV-Ton auch so, und hatte sofort eine 90% Vermutung, welcher Komponist hinter dem vorgetragenen Werk stecken musste: Franz Schubert. Der ist in Fachkreisen bekannt für ernste Klassik, das ist für Hartgesottene. Hape Kerkeling hat diese Musikrichtung in seinem Beitrag "Hurz!" gekonnt in die mediale Breite getragen. 😂
"Das Kunstlied ist ein sehr besonderes Metier", hatte die Moderatorin dem Musikbeitrag als Einleitung vorangeschickt. Der vorgetragene Titel hieß: "Die Post".
Und ja, im Mutterhome ging sogleich die Post ab: Lachanfall. 
"Mach das aus!", keuchte meine Mutter atemlos. "Ich halte das nicht aus, das muss weg!"
Dass sie ihre Fernbedienung selber in der Hand hatte, war ihr in diesem Moment gar nicht bewusst. Sie war vom Gesang völlig mitgenommen.
"Du hast die Schiene selber in der Hand", erinnerte ich sie, "schalt einfach um."
Sie reichte mir ächzend die Fernbedienung, damit ich sie von der musikalischen Folter erlösen sollte. Nachdem sie sich halbwegs beruhigt hatte, und wieder sprechen konnte, meinte sie: "Heute ist überall nur Jammermusik. Das passt zum Wetter! Mach lieber den Phoenix-Kanal rein, da singen sie wenigstens nicht!"
"Ja, aber da siehst du dann den Klausie, der übrigens Karl heißt, und dann geht's wieder um die Krankenhäuser. Das willst du auch nicht sehen, oder?"
"Nein!", schnaufte sie, immer noch atemlos.
Beim Durchzappen der TV-Kanäle streiften wir im Sekundentakt alle Hässlichkeiten und Banalitäten dieser Welt, das Panoptikum der Neuzeit, bis wir wieder beim Musikfernsehen gelandet waren. Heute gab es keine deutschen Schlager, sondern einen Mix aus internationalen Musikvideos; ein bisschen wie MTV, aber auch dort war nichts in Sicht- oder Hörweite, was das Mutterherz erfreut hätte.
Ich habe ihr eine Decke gereicht, damit sie nicht friert. Heute wäre vielleicht ein Tag, an dem sie zum ersten Mal die Segnungen des Internetz begrüßen würde, wenn ich ihr Mozzarella bei Youtube als Dauerschleife einrichte. Der geht immer, egal zu welcher (gefühlten) Jahreszeit. 😅

Siehe auch: ESC Muttertag, Gertrude spinnt, Der Klima-Michel, Farbintensiv, Wendekreis, Wissenslücken, Abends länger hell, Kreislaufwetter, Blütenexplosion, Sonne, sechzehn Grad!, Zwölf Grad Regen, Hoffentlich wasserfest, Wetter bewegt, Voll hochbegabt, #Musikfernsehen, Überwintern, Zimmerpflanzentrend

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